Kapitel 93. Die Eigenart der ſächſiſchen Stämme.

Man hat den Sachſen von alters her wenig Schlimmes nachgeſagt, und das iſt um ſo höher anzuſchlagen, als der Spott der Stämme untereinander in der Regel recht derb iſt Und ſelbſt die Vorzüge gern als Schwächen hinſtellt. Die Höflichkeit und Gemütlichkeit der Sachſen wird ſchon im vorigen Jahrhunderte von fremden Reiſeſchriftſtellern anerkannt und heute noch von Freund und Feind gerühmt; freilich verſucht der letztere gern, die Übertreibung der Höflichkeit ſo dar­ zuſtellen, daß ſie lächerlich wirkt. Die guten und ſchlechten Witze über dieſe über­ triebene Höflichkeit finden immer dankbare Hörer; auch der Sachſe ſelbſt hört ſie gern und beweiſt damit, daß ſie ihn nicht treffen. Daß die Anſpruchsloſigkeit im Genuſſe ihm die Namen Kaffee- und Kartoffelſachſe gegeben hat, kann er ſich füg­

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lich gefallen laſſen, obwohl weder der eine, noch der andere vollkommen berechtigt iſt. Endlich iſt auch die „Helligkeit“ der Sachſen, obſchon ſie mehr ſpöttſich als ehrlich gemeint wird, als ein Stammesvorzug derſelben anerkannt. Es wäre intereſſant, zu erkunden, wann und auf welche Weiſe das zum geflügelten Worte gewordene Attribut der Sachſen entſtanden iſt. Freilich iſt die Unterſuchung darüber ungemein ſchwer und wird vorausſichtlich auch zu keinem ganz giltigen Ergebniſſe führen. Der Gedanke, welcher dem Beiworte zu Grunde liegt, iſt alt. In den meiſten Reiſebeſchreibungen aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts wird die „Aufklärung“, die „Bildung“, der „Verſtand“ des Sachſenvolkes ge­ rühmt; und wenn dieſe Ausdrücke auch dem Sinne nach nicht mit der ſprichwörtlich gewordenen „Helligkeit“ übereinſtimmen, ſo dürfte doch dieſe Bezeichnung aus dergleichen Beobachtungen hervorgegangen ſein.

Eine Eigenart des geſamten ſächſiſchen Stammes giebt es im Grunde ge­ nommen nicht. Wohl ſind manche gemeinſame Grundzüge vorhanden, aber mehr noch Verſchiedenheiten, und dieſe ſind ſo tiefgreifend, daß beiſpielsweiſe der Leip­ ziger mit dem Erzgebirger wenig Ähnlichkeiten aufweiſt. Wer tiefer forſcht und einen feinen Spürſinn für gewiſſe Beſonderheiten hat, wird finden, daß ſich Ab­ weichungen in den die Eigenart beſtimmenden Zügen nicht nur bei den verſchiedenen Stämmen, ſondern auch in den verſchiedenen Thälern des Stammes, ja, ſogar in den verſchiedenen Städten und Ortſchaften finden. Übrigens ſchleifen ſich dieſe Eigentümlichkeiten, je mehr der Verkehr überhand nimmt, immer mehr ab. Eine gänzliche Entäußerung iſt gegenwärtig unmöglich; vielleicht wird ſie einmal mög­ lich werden, wenn jener Zug nach Einerleiheit, der immer bemerkbarer wird, weiter mächtig bleibt. Das Tiefland mit ſeiner unterſchiedloſen, gleichförmigen Bodenentwickelung iſt der Erhaltung der Eigenart weit weniger günſtig als das dem Hereinwogen fremder Einflüſſe mehr verſchloſſene, in Thalzüge und Höhen­ gruppen ſich zerſpaltende Hochland. So ſind denn auch die Stammesunterſchiede im nordſächſiſchen Tieflande weit mehr geſchwunden als im ſächſiſchen Hochlande. Vollſtändig unberührt von dem verwiſchenden, gleichmachenden Hauche der Kultur iſt auch das Hochland nicht geblieben; doch können wir hier noch vier beſondere Stämme wohl unterſcheiden, die Vogtländer, die Erzgebirger, die deutſchen Lau­ ſitzer und die Bewohner des Meißner Hochlandes.

Der Vogtländer gilt im Lande als Urbild ſtrotzender Geſundheit und mächtiger Kraftfülle. Wenn man vom „vogtländiſchen Typus“ ſpricht, ſo verſteht man darunter eine Erſcheinung, der die Geſundheit aus den hellen Augen und den roten Wangen leuchtet, deren Kraft ſich in der Stämmigkeit des Wuchſes und der Schwerfülle der Glieder kundgiebt. Freilich iſt das blühende Äußere nicht immer ein Zeichen innerer Geſundheit; Lungenkrankheiten ſind nicht ſelten, und der Kropf kommt beim weiblichen Geſchlechte häufig vor, häufiger wenigſtens als im Niederlande. Sein derbes, geſundes Ausſehen verdankt der Vogtländer nicht nur der herrlichen Luft ſeiner Heimat, ſondern auch dem Umſtande, daß man in der Regel gut und reichlich ißt. Fleiſch iſt zwar bei wohlhabenden Bauern nicht alltägliches Gericht; dafür ſind aber auch die Portionen nach den gewöhnlichen Begriffen ungemein groß. Die Kartoffel bildet das Hauptnahrungsmittel; aber

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der Vogtländer verſteht wie kaum ein anderer, den Genuß derſelben mannigfaltig zu geſtalten; die „grünen Klöße“ werden auch im Niederlande gern gegeſſen, während Hefenklöße und der vielgerühmte „Pampus“ (eine Art Kartoffelſchmarren) wenig Verehrer außerhalb des Vogtlandes gefunden haben.

Derb wie das Äußere iſt auch das Auftreten und Weſen des Vogtländers. Alles Zimperliche und Zarte, alles Sentimentale und Weichliche iſt ihm zuwider und fordert ſeinen Spott heraus, mit dem er überhaupt nicht zu kargen pflegt. Oft entwickelt ſich die Derbheit zur eigentlichen Grobheit; doch muß man wohl Unterſcheiden, ob die Grobheit beabſichtigt iſt oder nicht. Bei dem echten Vogt­ länder klingt ſelbſt eine beabſichtigte Höflichkeit, ja, eine verſuchte Schmeichelei oft grob. Gerät er aber in Zorn, dann ſteht ihm eine Menge von Worten zu Gebote, die man in ſolcher Stärke und in ſolch elementarer Kraft bei keinem anderen Stamme findet. Doch ſoll damit nicht geſagt ſein, daß der Vogtländer im eigentlichen Sinne händelſüchtig ſei wie etwa ſein ſüdlicher Nachbar. Die gute Laune behält in der Regel die Oberhand und verhindert eine Ausartung des Streites.

Jene Derbheit des vogtländiſchen Weſens iſt aber um ſo höher zu ſchätzen, als ſie Hand in Hand geht mit einer herzlichen Biederkeit, auf die man ſich verlaſſen kann. Wenn das Mißtrauen, nicht eine beſondere Eigenheit des vogt­ ländiſchen Stammes, ſondern wie ſo manches andere eine allgemein bäuerliche Eigentümlichkeit, einmal überwunden iſt — und die Überwindung desſelben iſt verhältnismäßig nicht ſchwer —, ſo giebt ſich der Vogtländer, wie er iſt, nicht mit jener Verſchloſſenheit, welche den Wenden nie verläßt, oder jener ſcheuen Zu­ rückhaltung, welche der Erzgebirger einem Fremden gegenüber zu zeigen pflegt. Man wird ſelten einen Volksſtamm finden, der dem Fremden ſo rückhaltlos einen Einblick in ſein Weſen geſtattet, wie es der Vogtländer thut.

Dieſe Biederkeit iſt aber nicht etwa die Folge mangelhafter Begabung, im Gegenteil: findige Klugheit und praktiſcher Verſtand, Anſtelligkeit und ſchnelles Erfaſſen ſind den Vogtländern in hervorragendem Maße eigen. Sie verdienen durchaus nicht die üble Nachrede, welche ſie gern in Verbindung mit jenen Tieren bringt, die in ihrer Stammesheimat ganz vorzüglich gedeihen. Wenn der vogt­ ländiſche Bauer den Neuerungen etwas mißtrauiſch gegenüberſteht, ſo iſt auch dies nicht Stammeseigenſchaft, ſondern er hat dieſe Eigentümlichkeit mit den meiſten deutſchen Bauern gemein. Das, was man Mutterwitz zu nennen pflegt, iſt im Vogtlande ganz beſonders zu Hauſe. Mutterwitz leuchtet ſchon aus dem hellen Auge der Kleinen; Mutterwitz ſpricht aus den Verſen, die Burſchen und Mädchen in der Spinnſtube oder zu Sommerszeiten auf dem Dorfplatze einander entgegen­ rufen; Mutterwitz blitzt auch aus dem grauumbuſchten Auge des alten Bauern, den irgend ein allerweltskluger Großſtädter beſchwatzen will. Der Mutterwitz äußert ſich in einer Schlagfertigkeit, der es ſelten am rechten Worte und an der treffenden Gegenrede gebricht.

Ein weſentlicher Zug würde aber im Geſamtbilde des Vogtländers fehlen, wenn ſein Hang zu fröhlicher Geſelligkeit unerwähnt bliebe. Früher bot im Winter die „Huzzenſtube“, d. h. die Spinnſtube, die allgemein beliebte Gelegenheit zu

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geſelligem Beiſammenſein. Es iſt bekannt, daß dieſe Spinnſtuben, weil ſie oft zu Stätten der Unſittlichkeit wurden oder doch wenigſtens Beförderungsmittel derſelben zu ſein ſchienen, durch die Verwaltungsbehörden verboten worden ſind. Dieſes Verbot hat ſie zwar nicht ganz vertilgt, aber doch ſeltener gemacht. Im Sommer tritt an Stelle der Spinnſtube der „Summerhaufen“, d. h. die Ver­ einigung lediger Burſchen und Mädchen an einem Platze der Dorfſtraße oder des Dorfangers. Von hier aus pflegen dann die jungen Leute in breiter Reihe, Arm in Arm oder Hand in Hand, durch die Dorfgaſſe zu ſchleudern und allerhand Lieder und Rundas zu ſingen. Das Hauptvergnügen nicht nur des jungen, ſondern auch des alten Vogtländers iſt der Tanz. Ihm giebt er ſich mit ganzer Seele hin, in ihm geht er vollſtändig auf. Der vogtländiſche Tanz hat nicht das Nüchterne, Schulmäßige und Angelernte, was der Tanz des Niederländers zu zeigen pflegt, ſondern etwas Urſprüngliches; er erinnert in ſeiner Lebendigkeit an den bayeriſchen und Tiroler Tanz. Von ſeinen fränkiſchen Ahnen hat der Vogt­ länder die Liebe zur Muſik und die Freude am Geſange geerbt. Er ſingt, wo er nur ſingen kann, und hat nicht nur ein gutes Gedächtnis für Melodien, die er gehört hat, ſondern auch eine bewundernswerte Fähigkeit, ſich ſelbſt für irgend ein Liedchen eine Weiſe zu ſchaffen oder wenigſtens eine ihm bekannte umzu­ modeln. Eins hat der Vogtländer mit dem Norddeutſchen gemein: bei der Feld­ arbeit ſingt er gewöhnlich nicht, es müßte denn die Art der Arbeit ſelbſt zum Geſang ihn herausfordern. Wenn aber die „Hofleute“ vom Felde heimwärts gehen, dann pflegt das erſte Wort eine Aufforderung zu gemeinſchaftlichem Ge­ ſange zu ſein.

Fröhlich und mitunter in überſchäumender Luſt feiert der Vogtländer ſeine Feſte, unter denen die „Kirmſt“ und Weihnachten die bedeutendſten ſind. Zur Kirmeß iſt er außerordentlich gaſtfrei und freut ſich um ſo mehr, je mehr Gäſte ihm die Ehre anthun. Speiſe und Trank giebt es an dieſem Feſte auch in den Hütten der Ärmeren in Hülle und Fülle; mit einer gewiſſen Beharrlichkeit arbeitet man ſich durch die Genüſſe hindurch; es iſt eine Ehrenpflicht, die Freuden der Kirmeß nicht nur oberflächlich zu koſten. Das Weihnachtsfeſt iſt im Vogtlande mit lieblichen Bräuchen und ſinnigem Zauber noch mehr umwoben als anderswo. „Bornkinnel“ heißt das Feſt ſowohl, als auch das Geſchenk, das es bringt; Krippen, teilweiſe von des Vaters Hand geſchnitzt, werden aufgeſtellt; Chriſtbäume oder öfter noch Papierpyramiden oder ſogenannte Kronleuchter werden angezündet; die ganze feſtliche Zeit iſt eine Zeit nicht nur der Ruhe, ſondern auch innigen Zu­ ſammenlebens und mannigfacher Feier.

Gar vieles hat der Vogtländer mit dem Erzgebirger gemeinſam. Man könnte den Unterſchied dahin zuſammenfaſſen, daß dieſer gemütlicher, jener derber, dieſer beſcheidener, jener ſelbſtbewußter, dieſer ſinniger, jener fröhlicher ſei; aber der­ artige Zuſammenfaſſungen haben bei Charakteriſierungen immer ihr Bedenkliches, hier aber beſonders deswegen, weil der erzgebirgiſche Hauptſtamm in eine ziemliche Anzahl von Einzelſtämmen zerfällt, die, wenn auch nicht in weſentlichen Punkten, ſo doch in manchen Eigenheiten ſich voneinander unterſcheiden. Schon im viel kleineren Vogtlande kann man den Obervogtländer, der um Adorf und Brambach wohnt,

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von dem niederen Vogtländer um Reichenbach und Mylau wohl unterſcheiden; je näher dem Niederlande, deſto weniger pflegen die ſtammlichen Beſonderheiten aus­ gebildet zu ſein. Im Erzgebirge iſt nun nicht allein der Unterſchied zwiſchen dein ſüdlichen Hochlande und der nördlichen Abdachung bemerkbar, ſondern auch der zwiſchen dem öſtlichen niederen und dem weſtlichen höheren Gebirgszuge. Das, was im folgenden als Eigenart des Erzgebirgers beſprochen werden wird, findet ſich in ungetrübter Reinheit nur in dem Teile, den man ſonſt ſächſiſches Sibirien nannte; aber einzelne Spuren, wenn auch verwiſcht und verſchwommen, laſſen ſich noch bis dahin nachweiſen, wo das Hügelland zum Wellenlande wird. Während im Norden die ausgleichende Macht der Ebene bemerkbar wird, läßt ſich im Oſten ſchon der eigentlich meißniſche und weiter nach Süden hin, beſonders in den Zinn­ gegenden, der böhmiſche Einfluß beobachten.

Wohl über kein Land und keinen Stamm haben ſich die herrſchenden An­ ſichten in den letzten Jahren ſo geändert, wie über das vermeintliche ſächſiſche Sibirien und ſeine Bewohner. Man hat geſehen, daß dieſes vielverkannte und vielgeſchmähte Bergland eine Fülle landſchaftlicher Schönheiten in ſeinen bach­ durchrauſchten Thälern, in ſeinen würzig duftenden Wäldern, auf ſeinen weit ins Land lugenden Höhen beut; man hat bemerkt, daß auch der Winter, obgleich hier von ihm das Wort des Claudius, daß er ein harter Mann ſei, kernfeſt und auf die Dauer, in ganz anderem Sinne noch Geltung hat als in der Ebene, nicht ſibiriſche Zuſtände ſchafft, ſondern manches wahrhaft große Landſchaftsbild und manche Annehmlichkeit, welche der zahme Winter der Ebene nicht zu bieten ver­ mag. Das Urteil über die Bewohner, die man früher für faſt bedürfnislos und damit für faſt vollkommen kulturlos hielt, hat ſich in gleicher Weiſe geändert, wenn auch nicht allenthalben. Man lernt eben das Land eher kennen als die Leute; und wie viele giebt es, die ſich gar nicht Mühe geben, die letzteren kennen zu lernen! Aber auch derjenige, welcher mit der in unſerem Zeitalter des Dampfes üblich gewordenen geſchäftsmäßigen Haſt die erzgebirgiſchen Höhen und Thäler durchwandert hat, wird bemerkt haben, daß die Erzgebirger wohl ein ärmliches und bedürfnisloſes Volk ſind, daß aber dieſer Statuen auch ſeine Vorzüge und ſeine Beſonderheiten hat, um die ihn der kulturmüde, aller Eigenart beraubte Sohn der Großſtadt beneiden könnte.

Im allgemeinen iſt der Erzgebirger ſchwächer Und bläſſer als ſein weſtlicher Nachbar. Urkräftige Geſtalten mit allen Zeichen der Friſche und Geſundheit, wie wir ſie im Vogtlande oft, ja faſt regelmäßig finden, begegnen uns hier ungleich ſeltener. Daß dieſer Umſtand zum Teil aus der mangelhaften Ernährung der ärmeren Klaſſe, die im oberen Erzgebirge den Grundſtock der Bevölkerung bildet, zu erklären iſt, ſoll nicht im mindeſten geleugnet werden, obwohl die in den land­ läufigen Volkskunden verbreiteten Nachrichten über die Ernährung und Wohnung der Erzgebirger zumeiſt ſehr übertrieben ſind. Fleiſch wird allerdings ſelten ge­ geſſen, um Sonntage aber fehlt es bei den wenigſten Familien; dagegen iſt der Käſe, bekanntlich eines der am meiſten eiweißhaltigen Nahrungsmittel, faſt all­ gemeine Zuſpeiſe. Daß die Kartoffel die Hauptkoſt mittags und abends bildet, iſt keine beſondere erzgebirgiſche Eigentümlichkeit; in den Dörfern des Meißner

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Hochlandes, wie überhaupt in den meiſten ländlichen Haushaltungen iſt das gleiche der Fall. Der Erzgebirger hat aber vor dem Niederländer das voraus, daß er aus der Kartoffel allerhand verſchiedene und ſchmackhafte Gerichte zu bereiten ver­ ſteht. Er kann alltäglich in der Woche Kartoffeln eſſen und ißt doch an keinem Tage das gleiche Gericht. In Paläſten wohnt der Erzgebirger nicht, aber auch nicht in Hütten, die von den Höhlen der Urmenſchen wenig verſchieden wären. Die Wohnungen auch der Armen machen meiſt einen freundlichen Eindruck, insbeſondere da der Bewohner des Gebirges mit ſeiner Luſt um Schnitzeln und „Peſteln“ und bei ſeiner Liebhaberei für Bilder und Blumen mancherlei zum Schmucke ſeines Wohnraumes anbringt. In übervölkerten Dörfern herrſcht eine Art Wohnungs­ not, die aber lange nicht ſo ſchwer und von ſo unheilvollen Folgen begleitet iſt wie die Wohnungsnot in den modernen Stadtkoloſſen. Daß eine Stube durch Kreide­ ſtriche in vier Teile geteilt wird, von denen jeder von einer Familie bewohnt wird, kann vielleicht einmal vorkommen, es aber als Regel, als beſondere Eigentümlich­ keit des Erzgebirges hinzuſtellen, iſt durchaus unberechtigt. Auch daß das Lager der Leute im oberen Gebirge oft nur Stroh und Moos ſei, iſt ein Irrtum. Da­ mit ſoll das Vorhandenſein der Armut nicht im mindeſten geleugnet werden. Das obere Erzgebirge iſt arm. Die Grunde dieſer Erſcheinung ſind zu bekannt, als daß ſie einer beſonderen Aufzählung bedürfen.

Der Erzgebirger ſelbſt iſt an ſeiner Armut ſelten ſchuld; er iſt fleißig. Schon die Kinder erzieht er zu nützlicher und einträglicher Geſchäftigkeit. Während fie im Sommer die mannigfachen Schätze des Waldes, die „ſchwarzen und die roten Beer“, die Suppen- und Heilkräuter, wohl auch die Tannenzapfen und anderes zuſammenſuchen, ſitzen ſie im Winter um „Klipplkaſten“ oder an der Spule oder fangen an zu ſchnitzen und zu ſchneiden. „Viel Kinder, viel Segen“ gilt daher im Erzgebirge in ganz beſonderem Sinne; hier helfen die Kinder nicht nur verzehren, ſondern auch verdienen. Bettler ſind ſelten in den Dörfern. Als der Touriſtenſtrom noch nicht durch die erzgebirgiſchen Thäler wogte, ſah man ſelten bettelnde Kinder; jetzt freilich iſt das in jenen Gegenden, durch welche der Hauptweg führt, nicht ohne Schuld der Fremden ſelbſt, etwas anders geworden. Eine Eigenſchaft fehlt den Bewohnern des Erzgebirges vollſtändig, das iſt die Willenskraft. Seine Gemächlichkeit zeigt ſich ſchon in ſeiner Mundart, in der Weiſe des Sprechens und in der Eigenart ſeiner Bewegungen. Der Vogtländer hat noch eine Spur von der bayeriſchen „Schneid“, dem Erzgebirger fehlt ſie ganz. Am liebſten bleibt er das, was der Vater geweſen; und mag ein anderer Beruf noch ſoviel klingenden Lohn verſprechen, er wendet ſich nicht von dem er­ erbten oder gewählten ab. Wie viele erzgebirgiſche Hauſierer klagen über die Not der Zeit; allein auf die Aufforderung, ſich doch einem anderen Gewerbe zuzuwenden, bringen ſie nichts anderes vor als: „Doas ka ich net!“ Die Gewohnheit iſt eine Macht im Leben des Erzgebirgers. Neuerungen brechen ſich langſam Bahn, mit Mißtrauen werden neue Erwerbszweige angeſehen. Wer, um die Lage der Leute zu verbeſſern, irgend ein gewerbliches Unternehmen anfing, hatte von dieſen Eigen­ tümlichkeiten des Stammes viel zu leiden. Wenn nun einerſeits dieſe Gemäch­ lichkeit inſofern bedenklich iſt, als ſie eine kräftige Willensthätigkeit ausſchließt

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oder wenigſtens nicht ſofort aufkommen läßt, ſo hängt doch mit ihr auch jene tief­ innerliche Gemütlichkeit zuſammen, die den Erzgebirger auszeichnet. Dieſe Ge­ mütlichkeit äußert ſich überall. Er hängt mit großer Liebe an ſeinen Blumen, an ſeinen Vögeln, nach deren Beſitz er ſo lüſtern iſt, daß er ſchon oft genug mit den Wächtern der ſtaatlichen Ordnung in böſen Streit kam; er iſt ungemein ſorglich und mitleidig mit ſeinem Vieh. Das Leben in der Familie und zwiſchen den ver­ ſchiedenen Familien iſt vertraulich und herzlich. Wie er an ſeinen Ahnen und Eltern mit großer Liebe hängt und mit einer ſeltenen Hochachtung zu ihnen empor­ ſchaut, ſo iſt er auch durch die Bunde innigſter, nie verlöſchender Liebe mit ſeinem Heimatlande verknüpft. In der Fremde verläßt ihn das Heimweh nimmer; die Äußerungen desſelben ſind um ſo rührender, als ſie den Eindruck unmittelbarer Em­ pfindung machen und wie von ſelbſt hervorzuquellen ſcheinen. Der „Leitermann“, der – ſeine Leitern und Rechen durch die Dörfer fährt, der „Karlsfelder“ mit ſeinem hohen Tragkaſten, der Spitzenmann und der „Schiehader“ (Schönheider), ſie alle ſehnen ſich heim und freuen ſich, wenn ſie um die Adventszeit ſich zur Heimkehr rüſten dürfen. Auch an den alten Reſten verſchwindenden Volkstumes und Volks­ glaubens hängt der Erzgebirger mit wunderbarer Feſtigkeit; Sagen und Märchen, die ſonſt verſchwunden ſind, haben ſich hier erhalten.

In den erzgebirgiſchen Familien iſt die Überlieferung noch lebendig. Die alte Ahne im Lehnſtuhl, die nicht mehr klöppeln kann, weil ihre Finger zittern, erzählt den Kleinen die Wunderſagen und die beſonderen Geſchichten des Thales und des Dorfes, und dieſe erhalten ſich in den Herzen und Köpfen und werden von den altgewordenen Hörern weiter vererbt. Hier eben iſt noch manches lebendig, was anderwärts ſchon lange tot und mit Moder bedeckt iſt. Hier leben in den langen Winterabenden die Geſtalten der altdeutſchen Sage wieder auf, und leuchten­ den Auges lauſchen die Kleinen den Märchen von dem reichen Silberherrn, den der Satan geholt, von dem Bergmanne, der die Silberſtufen gefunden, von dem grauen Männchen in Schneeberg und dem Schwarzkünſtler zu Geyer. Wie an ſeiner Heimat und deren Sagen, ſo hängt er auch an den alten Bräuchen und Sitten. Die erzgebirgiſche Tracht iſt zwar faſt ganz verſchwunden — nur ver­ einzelt ſieht man noch den roten Bruſtlatz mit blanken Knöpfen, öfter noch die ſchwarzledernen Hoſen und den Samtbartel –, aber mit ihr nicht die eigenartige Sitte des Gebirges. Beſonders mächtig iſt noch die chriſtliche Sitte. Was man im Niederlande ſchon als überlebt beiſeite geworfen hat, iſt in den Bergen noch lebendig. Die chriſtliche Sitte iſt eben keine bloße Äußerlichkeit; ſie iſt ein Aus­ druck des Erzgebirgers, der ſich nicht nur in ſeinem Thun und Treiben, nicht nur in ſeinem Verhältniſſe zur Kirche und deren Dienern, ſondern auch in ſeinen Sprichwörtern und ſeinen ſprichwörtlichen Redensarten kundgiebt. Gemeinſam mit dem Vogtländer iſt ihm die ſinnige Feier des Weihnachtsfeſtes. Was bei jenem die Krippe, iſt bei ihm das Bethlehem, eine Darſtellung des Weihnachts­ wunders, oſt vom Vater geſchnitzt, oft auch in den Familien forterbend, um welche ſich die Familie zum Feſte ſammelt. Die Stelle des Lichterbaumes wird, beſonders iu den Bergwerksgegenden, durch einen Bergmann vertreten, der ein Licht hält, oder auch durch einen großen Leuchter. Die Art der Feſtvorbereitung, der Feſt­

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feier und ihre Bedeutung für das Gemeinſchaftsleben erinnert in den meiſten Punkten an das Vogtland.

Eine Kunſt verſteht der erzgebirgiſche Arbeiter nicht, die Kunſt des Sparens. In der Regel wird das Verdiente auch verbraucht, und die Mehrzahl der kleinen Leute lebt im eigentlichen Sinne aus der Hand in den Mund. Wenn der Erz­ gebirger demnach oft ſelbſt die Schuld trägt, daß Schmalhans Küchenmeiſter wird, ſo iſt er doch wiederum ſo genugſam und ſo heiter, daß er den Mangel leicht er­ trägt. In ſeinen Liedern wird die Genügſamkeit manchmal in herzlicher und herzbewegender Weiſe laut. Seine Heiterkeit ſprudelt nicht ſo über, wie die des Vogtländers; ſie iſt ſtiller, wie das ganze Weſen des Erzgebirgers ein innerlicheres iſt. Das ſchließt freilich nicht aus, daß hin und wieder dieſe heitere Grund­ ſtimmung des Gemütes in neckiſchem Scherze, in fröhlichem Witze und in friſchem Sange laut wird; aber der Erzgebirger ſingt weit ſeltener als ſein weſtlicher Nachbar.

Verhältnismäßig kurz können wir uns über die Eigenart der Lauſitzer und der Bewohner des Meißner Hochlandes faſſen. Die Gebirge ſind im Oſten unſeres Vaterlandes niedriger und ſchon viel länger dem allgemeinen Verkehre geöffnet als die weltfernen Thäler und die unwegſamen Höhen des Erzgebirges; die un­ mittelbare Folge dieſer Thatſache iſt die ſchon weiter vorgeſchrittene Abſchleifung der beſonderen Eigentümlichkeiten des Stammes.

Der Lauſitzer, mehr noch der Weſtlauſitzer um „Steewumsdg“ (Steinicht­ wolmsdorf) und „Cunewahle“ (Cunewalde) als der Oſtlauſitzer bei Zittau und Warnsdorf, iſt rauher und derber als der Erzgebirger. Schon aus der Mundart geht dies hervor. Die Lauſitzer Mundart mit ihrem rollenden R-Laut, ihren dumpfen Vokalen, ihrer ganzen poltrigen Art hat etwas Rauhes und ſcheinbar Hartes. „Kummt ockerei’“ (Kommt doch herein) klingt ebenſowenig wie eine freund­ liche Einladung, wie jene faſt zum geflügelten Worte gewordene Frage: „Aß’t ’r oh no mie?“ (Eßt ihr auch noch mehr?) Aber die Härte iſt nur eine ſcheinbare. Derb und zugehackt wie ſeine Sprache iſt wohl auch die Art des Lauſitzers; aber die rauhe Schale birgt in der Regel einen guten Kern. Wenn man ihm auch im allgemeinen große Innerlichkeit nicht zuſchreiben kann, ſo iſt doch ſein Gemütsleben nicht arm; er verſchmäht es nur, ſeinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Oft aber leuchtet aus einem einzigen Worte, aus einer Redewendung, einer eigentümlichen Tonart die Tiefe ſeines Gefühles hervor. An ſeiner Heimat mit ihren „ſchianen, ſchianen Barg’n“ hängt er mit treuer Anhänglichkeit und faſt ſchwärmeriſcher Sehnſucht, und das Gefühl der Stammeszugehörigkeit iſt mächtig entwickelt, ſo daß er in der Fremde gern ſich zu Stammesgenoſſen hält. Zu harter Arbeit iſt er gezwungen, das macht ihn ernſt und ſtill. Die Sangesluſt des nachbarlichen Wenden beſitzt er nicht, die ausgelaſſene Luſtigkeit des Vogtländers iſt ihm voll­ kommen fremd. Eine gewiſſe Neigung zur Einſamkeit Und zum Grübeln iſt ihm nicht abzuſprechen. Daher kommt es auch, daß der deutſche Lauſitzer gern ſich liberal nennt und gern für aufgeklärt gilt.

Von dem Bewohner des Meißner Hochlandes läßt ſich inbezug auf ſeine Eigenart noch weniger ſagen. Er bildet, wie geographiſch, ſo auch volks­ pſychologiſch den Übergang vom Erzgebirger zum Lauſitzer. Beſtimmend hat

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außerdem auf die Entwickelung ſeines beſonderen Weſens der Umſtand gewirkt, daß er ſeit langer Zeit ſchon in lebhaften Verkehr mit Leuten anderen Stammes trat. Ein Reiſender rühmt am Ende des vorigen Jahrhunderts die Offenheit und Biederkeit der Bewohner der „Heide“, wie man damals das Meißner Hoch­ land nannte; auch von der Anſpruchsloſigkeit und Beſcheidenheit derſelben weiß er mancherlei zu erzählen. Das Meißner Hochland iſt inzwiſchen zu einem be­ liebten Wanderziel geworden; aus ganz Deutſchland ziehen wanderluſtige Leute durch das Hauptthal und ſeine beliebteſten Nebenthäler. Daß unter ſolchen Um­ ſtänden mancher eigenartige Zug verſchwindet, mancher weniger hervortritt, iſt ſelbſtverſtändlich; man muß ſchon in die vom Hauptwege weiter abſeits liegenden Thäler gehen, wenn man die Eigenart der Leute ohne fremden Zuſatz kennen lernen will. Ein beſonders hervorſtechender Zug im Charakterbilde iſt die Sauber­ keit, weniger noch an der eigenen Perſon als an der Behauſung. Schmuck ſind die Dörfer und Häuſer, ſchmuck die Straßen und Wege, ſchmuck ganz beſonders die Schulhäuſer, für die man in der Regel beſſer ſorgt als für die Kirchen. Fleißig und rührig ſind die Bewohner; was ihnen die karge Natur verſagt hat, ſuchen ſie durch Emſigkeit und Regſamkeit zu erſetzen. Die Folge dieſer rührigen Thätigkeit iſt ein allgemeiner Wohlſtand, der freilich mehr auf der an das eigent­ liche Hochland grenzenden Hochebene als in dieſem ſelbſt zu Hauſe iſt. Dagegen geht den Bewohnern des Meißner Hochlandes der Sinn für ihre beſondere Eigen­ art faſt gänzlich ab. Daß ſie ſich nicht als einen Stamm fühlen, geht ſchon daraus hervor, daß ſie keinen Geſamtnamen für den Stamm haben.

Wohl kann man das allmähliche Verſchwinden der Stammeseigentümlichkeiten bedauern, hindern wird man es nicht können. Der gleichmachende, alle bezeich­ nenden Unterſchiede verwiſchende Zug der Zeit hat bereits begonnen, ſich auch in den weltfernſten Teilen unſeres Vaterlandes bemerklich zu machen, und er wird von Jahr zu Jahr immer mächtiger, ſeine Thätigkeit wird immer ſichtbarer werden. Mit jedem Schienenſtrange, der in ein bisher unberührtes Thal gelegt wird, ſchwindet ein Stück der Eigenart; durch jede Erleichterung des Verkehrs wird jene Vermiſchung der Eigentümlichkeiten unterſtützt. Es iſt deshalb von beſonderem Intereſſe, die Eigenart der Stämme zu beobachten, ſolange noch eine ſolche Beobachtung möglich iſt. Bald genug wird auch das Bild eines Vogt­ länders und Erzgebirgers, wie wir es zu ſchildern verſucht haben, der Ver­ gangenheit angehören.

Dr.GeorgOertel.