Kapitel 92. Die Waldfee.

92.1. Eine Erzählung aus dem oberen Erzgebirge.

Wie las ich als Knabe voll Glückſeligkeit Von holden, wohlthätigen Feen; Süß grüßt ſie herüber, die wonnige Zeit, Wie blütenerweckendes Wehn.

Wie ſehr doch dem Knaben das Märchen gefiel! Welch Wehgefühl er dann empfand, Als bald in des Lebens vielwechſelndem Spiel Der kindliche Glaube entſchwand!

Und doch giebt es Feen in Menſchengeſtalt, Und Feen, die Engeln gleich ſind.

Die unſern Hans grüßte dort draußen im Wald — Die kennſt du gewiß, Sachſenkind! R. R.

I. Der Auerhahn.

„Herrendienſt iſt doch ein ſaurer Dienſt! Statt im Städtchen drunten heut abend mit Freunden luſtig beiſammen ſein zu können, muß ich hier im öden Walde bleiben.“

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Unter dieſen mürriſchen Worten trat ein hochgewachſener, kräftiger Mann mit ſonnenverbranntem Antlitz in die einfache Waldſchenke ein, die oben im un­ wirtbaren Erzgebirge nahe der ſächſiſch-böhmiſchen Grenze ſich befand. Sie ſollte dem verdrießlichen Gaſte, dem Forſtgehilfen Herrn Andreas Peters, für die nahende Nacht Aufenthalt bieten. Seine Geſichtszüge ließen allerdings auf das Vorhandenſein einer ihm reichlich innewohnenden Lebensluſt ſchließen, einer Lebens­ luſt, die man ihm in ſeinen Bekanntenkreiſen um ſo weniger verdachte, als er jederzeit reichlich mit Geld verſehen war, mehr, als man ſeinem Einkommen gemäß glaubte erwarten zu dürfen.

Der nächſte Vorgeſetzte Peters’, Herr Oberförſter Redlich, der in dieſem ihm ungefähr ſeit einem halben Jahre zugewieſenen Gehilfen einen brauchbaren Jäger erkannt hatte, legte auf die Leichtlebigkeit desſelben kein allzugroßes Ge­ wicht. Ihm war es genug, daß er an dem Manne im Dienſte nichts zu tadeln fand. Nur ſeine unerbittliche Härte gegen arme Leute, Holz- und Beerenſucher, mißfiel dem alten Forſtmanne, der trotz ſeines poltrigen Weſens ein warmes Herz für die Armut beſaß. Schon manchmal hatte er Peters kopfſchüttelnd beobachtet.

„Was ſteht Herrn Peters zu Dienſten?“ fragte der Wirt, auf ſeinen Gaſt zutretend uud ihm die Hand entgegenhaltend, während er mit der andern ſein Käppchen lüftete.

Obwohl anerkanntermaßen der Forſtgehilfe Augen beſaß wie ein Luchs, überſah er doch die treuherzig gebotene Hand. Während er ſein Jagdgewehr in die Ecke lehnte, fuhr er ärgerlich fort:

„Was ſoll es weiter ſein? Einen Hahn ‚verhören‘, von dem alle Welt ohnehin weiß, daß er ſich am ſchwarzen Felſen ‚einſchwingt‘, und wozu das? Damit ihn große Herren ‚anſpringen‘. Gebt mir etwas zu eſſen und zu trinken und haltet das Zimmer hübſch warm — es wird wieder abſcheulich friſch draußen — bis ich wiederkomme, um morgen in aller Frühe von hier aus dem Herrn gehorſamſt entgegenzugehen und ihm zu melden, daß der Hahn noch auf dem alten Platze ſitzt.“

Er redete in ſeiner Jägerſprache von einem Auerhahn, der des Abends be­ lauſcht wird, damit ihn früh der Jäger ſicher beſchleichen kann.

„Gott ſei es geklagt,“ entgegnete der Wirt mit feſter Stimme, „wie dreiſt Ihr redet von unſerem guten Herrn! Alle Leute ringsum freuen ſich, wenn er zu uns kommt; und wie ihn ſelbſt, ſo verehrt man allgemein ſeine liebreiche Gemahlin. Er ſollte Euch nur einmal hören!“

„Wie? Ihr wollt wohl den Ankläger machen? he?“ ziſchte Peters, und ſeine Augen funkelten wie die einer giftigen Schlange. „Kehrt vor Eurer Thür! Man munkelt allerlei von Wilddiebereien gewiſſer Leute. Hütet Euch!“

Sprachlos vor Entrüſtung ſtand der biedere Wirt eine Weile ſtill; bedenk­ lich rötete ſich ſein Geſicht. Da trat ſeine Frau herein, die alles angehört haben mochte. Mit einem tiefernſten Blicke ſchaute ſie ihren Mann an, als wenn ſie ihm ſagen wollte: „Um Gottes willen, zanke nicht mit dem zornmütigen Menſchen; du weißt, er iſt mitleidslos und ſtreitſüchtig.“ Sich gewaltſam bezwingend, hob der Wirt bloß warnend die Hand und ſagte:

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„Hütet Euch, Herr Peters; man hat es ſchon öfters erlebt, daß der, dem die Ehre eines andern nicht heilig iſt, leicht um die ſeine kommt!“

Er verließ das Zimmer und vermied es, dem unlieben Manne, der nach ge­ thanem Waldgange in der Schenke kurzer Ruhe pflegte, wieder unter die Augen zu kommen.

Am andern Morgen in aller Frühe, es war noch vor Sonnenaufgang, mar­ ſchierte vor einem von der Waldſchenke nicht allzufern liegenden Jagdſchlößchen ein graubärtiger Forſtmann auf und ab. Den Rauch ſeiner Pfeife blies er luſtig in die reifkalte Nacht hinein. Es war der erwähnte Oberförſter, ein Frei­ berger Kind, der in ſeinen jungen Tagen den Unterricht des Dichters und Schul­ mannes Döring genoſſen hatte. Daher kam es wohl auch, daß er eben leiſe aus dem „Bergmannsgruß“ citierte:

„Noch ſchweigend ruht die Flur, Im heil’gen Dunkel ſchlummert die Natur, Der Vogel ſelbſt regt nur die raſchen Schwingen, Wenn Furcht, wenn Hoffnung ihn im Traum umfingen.“

Die letzten Worte mußte er wohl etwas lauter geſagt haben, ſo daß ſie der eben herantretende Schloßherr hatte hören können.

„Glück auf, mein poetiſcher Herr Oberförſter!“ grüßte derſelbe mit wohl­ klingender Stimme; „es ſcheint mir kein gutes Omen zu ſein, wenn Jäger früh dichten. Es könnte ja leicht kommen, daß uns die Hoffnung auf glückliche Jagd nur im Traum umfinge, in Wirklichkeit aber täuſchte. Wir ſind doch ſicher, daß wir den Hahn antreffen?“

Der Oberförſter grüßte ehrerbietigſt und antwortete dann:

„Ganz ſicher; es müßte denn ein tückiſcher Kobold ſein Spiel treiben. Ich habe Peters ſchon geſtern abend vorausgeſchickt und –“

„Und ſo bauen wir auf Hoffnung unverdroſſen fort,“ fiel der Schloßherr ein, der in ſeiner Leutſeligkeit ſich nicht nur hier im Walde die ihm zukommenden Titulaturen verbeten hatte, ſondern es auch gern ſah, wenn der Oberförſter ſein Pfeifchen auf ihren gemeinſchaftlichen Jagdgängen rauchte.

„Peters iſt zuverläfſig, wie?“ fragte der Schloßherr, ſich dabei an ein Wort ſeiner menſchenkundigen Gemahlin erinnernd, welcher der Forſtgehilfe bei einer Begegnung mißfallen hatte.

„Gewiß, gnädiger Herr; er war ja Soldat!“ lautete die Antwort.

Das Geſpräch verſtummte. Während die beiden Jagdfreunde im Dunkel des Hochwaldes verſchwinden, werde der Herr des Schloſſes den lieben Leſern etwas bekannt gemacht. Die Herrſchaften in großen Städten haben vielfach Landſitze, die ſie nach des Winters Öde gern beziehen. Dieſer Herr war nun mit ſeiner Gemahlin im Frühjahre gekommen, da er die Freuden der Jagd zu ſolcher Zeit liebte, und da in dieſem Jahre trotz der noch kühlen Nächte der Lenz ſo wonnig war, daß ſeine Gattin zugleich ihren Malſtudien im Freien ob­ liegen konnte. Sie wohnten für gewöhnlich in der Reſidenz, wo ſie eine ſehr verantwortungsreiche Stellung einnahmen. Von vornehmen Anſprüchen brachten ſie aber herzlich wenig mit heraus in den Wald; da trat vielmehr ihre leutſelige Weiſe ganz beſonders zu Tage.

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Der Herr, das haben wir ſchon im Morgengrauen bemerken können, war eine ſtattliche Erſcheinung. Er trug eine graue Joppe, hohe Stiefel und eine Mütze, ähnlich der Dienſtmiütze des Oberförſters. An einem ſchön geſtickten Bunde führte er ein koſtbares Gewehr mit ſich, bei deſſen Anblick der Oberförſter lieb­ äugelnd ſchon manchmal gemurmelt hatte: „Wie thut ſich das Herze mir auf!“

An beſtimmter Stelle trat Peters zu ihnen und verſicherte, daß alles in Ordnung ſei. Obwohl das Ziel, der ſchwarze Felſen, noch eine weite Strecke entfernt war, ſchritten doch die drei ſchon jetzt geräuſchlos dahin. Der Weg führte über loſes Geröll, durch Felsſchluchten hindurch, an luſtigen Bächlein da­ hin, die der Lenz den verſteckten Schneelagern im Walde entlockte, und die nun geſchwätzig dem Bache zueilten, der ob ſeiner weißſchäumenden Fluten Weißeritz (d. i. die Schäumende) hieß.

Inzwiſchen näherte ſich dem ſchwarzen Felſen von der entgegengeſetzten Seite ein wunderliches Gefährt, ein vierrädriger Handwagen, einem kleinen Leiterwagen gleich, gezogen von einem blaſſen Weibe in ländlicher Tracht, mit einem bunten Tuche auf dem Kopfe, geſchoben von einem blondlockigen Knaben im Alter von ungefähr acht Jahren, deſſen roter Mund mancherlei plauderte, ohne daß ihm auf alles Antwort geworden wäre. Die Mutter brauchte ihren Atem; denn der Weg war ſteil und der Wagen ſchwer. Der Vater, der in demſelben gefahren wurde, war krank. Aus dem großen Kriege von 1870 bis 1871 war er zwar mit dem eiſernen Kreuze geſchmückt, aber auch in krankem Zuſtande zurückgekehrt. Sein Leiden hatte ſich nach und nach verſchlimmert. Trotzdem hatte man dem Braven die anfangs gezahlte Penſion gekürzt und ihn damit den Nahrungsſorgen ausgeſetzt. Bald war die Not für Auguſt Peters und ſeine Familie ſehr groß geworden. Jetzt ſaß er im Wagen und ächzte bei jedem Stoß an einen Stein und ſchauerte in der Kühle. Der Rheumatismus hatte ihn darniedergeworfen; die Beine waren wie gelähmt, ſogar das Sprechen ſtrengte ihn an und ver­ mehrte ſeinen quälenden Haſten. Was wollte er aber im Walde? Suchte er etwa Herrn Andreas Peters? O nein! Zwar war dieſer ſein Vetter und hatte Urſache, ihm dankbar zu ſein; doch unſer Invalid und ſeine Frau wußten nichts von deſſen Hierſein. Sie ſuchten den vielvermögenden Herrn aus der Reſidenz, von deſſen Verweilen im Schloſſe ſie gehört hatten. Wenn ein Menſch Rat ſchaffen konnte, ſo war es dieſer Herr, von dem man wußte, daß er im Wetteifer mit ſeiner edlen Gemahlin brave Invaliden beſonders gern unterſtützte. Sie hatten den Bericht über ihr Mißgeſchick zu Papier gebracht; den wollten ſie dem Herrn geben und dabei ihre Bitten ausſprechen.

Von fernher, aus einem armen Gebirgsdörflein, kamen ſie ſo früh, um recht viel Zeit zu haben, dem Herrn nahen und dann bis zum Abend wieder heim­ kehren zu können. Oftmals hielt das Gefährt ſtill, damit der Vater ſich erhole. Auch für die Mutter waren Pauſen nötig; denn der Knabe am Hinterteile des Wagens konnte nicht viel dazu beitragen, denſelben vorwärtszubringen. War es doch ſchon zu rühmen, daß er ſo tapfer die Nacht durchwandert und keine Furcht gezeigt hatte. Wie er es in einem Märchenbuche geleſen, das ihm früher einmal von einem lieben Paten geſchenkt worden war, meinte er, der Wald ſei

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von guten Geiſtern belebt, die mit ihrer menſchenfreundlichen Herrin, der Waldfee an der Spitze, gern armen Leuten ſichtbar würden. Wiederholt hatte er geſagt:

„Gieb acht, die Waldfee kommt noch; ſie iſt mir ſchon einmal im Traume erſchienen!“

Der Vater hatte immer ungläubig gelächelt und die Mutter zuletzt gemeint:

„Sei nicht ſo thöricht, Hans; es giebt gar keine Waldfee.“

Hans wußte das aber beſſer, und wieder und wieder ließ er ſeine hellen Blicke umherſchweifen. Als ſie die Höhe des Weges erreicht hatten und die Mutter anhielt, ſchaute Hans in das Thal zurück und ſagte dann tröſtend:

„Vater, der Tag wird ſchön, die Elfen ducken ſich im Thale; bald wird dich nicht mehr frieren.“

Er war eben in ſeiner Kindlichkeit noch ganz dem Märchenglauben zugethan; wir würden ſagen: „Das Fallen des Nebels läßt auf helles Wetter ſchließen.“

Als ſich jetzt Gelegenheit bot, den holperigen Fahrweg mit einem allem An­ ſcheine nach gleichlaufenden Waldpfade zu vertauſchen, – that dies die Mutter um des Kranken willen gar gern. Dabei hatte keines von ihnen eine Ahnung, daß ſie ſich zu ſehr unrechter Zeit dem ſchwarzen Felſen näherten, dem Aufenthaltsorte des vielbegehrten Auerhahnes. Leicht glitt der Wagen über weiches Moos dahin.

Auf der andern Seite des Felſens nahten mit der größten Vorſicht die Jäger. Als ihnen zum erſten Male die ſonderbaren Laute des königlichen Vogels entgegenklangen, blieben der Oberförſter und Peters unbeweglich zurück, um un­ nötiges Geräuſch zu vermeiden. Sie ſtanden wie Salzſäulen. Der Auerhahn iſt nämlich ein äußerſt ſcheuer Vogel, den der Jäger nur während des ſogenannten „Abſchlags“ beſchleichen kann, das ſind die letzten Töne ſeines Geſchreis, bei denen er einen wunderlichen Rundtanz aufführt, die Kehlfedern aufſtreift und die Flügel zitternd hängen läßt. So iſt der abſonderliche Vogel zugleich Spielmann und Tänzer. Der Jäger ſagt: Der Hahn balzt. Regungslos muß der Ver­ folger ſtehen, ob ihm das Herz vor Jagdbegier auch noch ſo ſehr klopft. Ruhe, Totenſtille muß herrſchen. Nur während des Abſchlags ſieht und hört der Be­ drohte nicht. Da darf der Jäger drei Sprünge vorwärts thun, bis er endlich einen günſtigen Standpunkt erreicht hat, von dem aus er das tödliche Geſchoß entſenden kann.

Die große Mühe und Vorſicht, welche der Jäger aufzuwenden hat, womit will ſie der Leſer wohl vergleichen? Vielleicht mit dem langen, mühſamen Schreiben eines Briefes, in dem kein einziger Fehler ſtehen darf. Mag er das thun. Wie nun, wenn beim Schlußpunkt ihm jemand die Feder aus der Hand ſchläge, daß ein Klex würde, wer weiß wie groß?

Die lieben Leſer ahnen gewiß ſchon, was nun kommt. –

Eben hatte der Herr einen vortrefflichen Standpunkt erreicht und der Ober­ förſter den beſten Zeitpunkt gewählt, um zu flüſtern, unhörbar für das feinſte Ohr: „Hilf, Gott, und gieb Gedeihen dem Beginnen!“ Da, o weh! quitſchte etwas um den Felſen herum mit häßlichem Tone, und rumpelnd ſtieß es an eine vorſtehende Wurzel, als erwachten böſe Geiſter, die ſchliefen. Als der Finger des jagdfrohen Herrn eben den Drücker des Gewehres berührte, da entſchwand der

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Vogel, und die Jagd war verdorben. Mißmutig ſetzte der Herr die Büchſe ab; da ſtürzte ſchon mit zorngerötetem Geſicht ſchnell wie ein Hirſch der Oberförſter an ihm vorbei und Peters hinterher dem Orte zu, wo der Störenfried zu ver­ muten war.

„Das wird ein ſchönes Wetter geben,“ ſagte der Herr und verließ den un­ glückſeligen Ort.

Bald vernahm er auch aus etlicher Entfernung des Oberförſters grimmiges Schelten, das allerdings von der poetiſchen Anlage des alten Weidmanns nichts verriet; Peters Worte und Laute einer kräftigen, weiblichen Stimme klangen dazwiſchen. Der Herr hatte keine große Sehnſucht, den Streitenden nahe zu kommen, und langſam ſchritt er vorwärts. Halb und halb verſtand er die Reden. Jetzt zeterte die Frauenſtimme: „Ein ehemaliger Soldat iſt mehr wert als Euer lumpiger Auerhahn!“

Sie konnte grob ſein, der Oberförſter aber auch. Wie durfte die Thörichte es wagen, verächtlich von einem Auerhahn zu ſprechen?

„Was?“ ſchrie der Oberförſter heftig, „Sie heilloſe Perſon mit ihrem Schandfuhrwerke in meinem ſchönen Walde? Einen ſo prächtigen Burſchen giebt es gar nicht wieder — ihr — ihr Geſindel!“

„I, was der Herr ſagen!“ ſprudelte die Frau erboſt; „wir wären Geſindel? Und der Wald wäre ſein? Das ſind lauter Lügen!“

So klang es hin und her, bis der aufs äußerſte erzürnte Oberförſter donnerte:

„Peters, ſchaffen Sie die Geſellſchaft ins Dorf; der Gemeindevorſtand mag ſie einſperren; das ſind Staatsverbrecher; die Sache muß unterſucht werden!“

„Vielleicht kommen wir hierdurch unſern Wilddieben auf die Spur,“ ſetzte Peters hinzu, worauf er ſich beeilte, den befohlenen Transport auszuführen. Als der Herr herantrat, verſchwand der Zug gerade im Walde. Beruhigend ſprach der Herr:

„Laſſen Sie es gut ſein, Herr Oberförſter! Warum ſo erregt? Wir ver­ ſuchen es morgen anderswo. Wer waren denn eigentlich die Leute?“

„Daß mir das paſſieren muß, gnädiger Herr! Aber Sie ſagten es gleich, ein Jäger ſolle früh ſich nicht dichteriſch benehmen wollen. Ich bin troſtlos!“

„Nur ruhig, Freund! Wer waren die Leute? Wie kommen ſie jetzt hierher in den Wald?“

Betroffen ſprach der Oberförſter:

„Was ſie hier wollten, weiß ich wirklich nicht; ich bitte um Vergebung, danach fragte ich nicht. Ich ärgerte mich zu ſehr über die Frauensperſon, daß ſie ſagte, ein ehermaliger Soldat ſei mehr wert als ein — lumpiger Auerhahn. Gnädiger Herr, das waren ihre Worte!“

„Und iſt das nicht wahr!“ ſprach der Herr ernſt und langſam.

Da ſchoß dem Oberförſter eine Blutwelle ins Geſicht, und jener fragte weiter:

„War denn ein Soldat dabei?“

„Ja, gnädiger Herr,“ geſtand der Oberförſter offen, „und ich will nicht ver­ heimlichen, derſelbe war krank; er wurde von ſeinem Weibe und einem kleinen Jungen gefahren, und – er trug — das eiſerne Kreuz.“

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„Wie? das eiſerne Kreuz?“

„Ich hätte es vielleicht nicht geſehen; aber er zeigte es mir, ohne dazu reden zu können.“

„Und dieſe Leute wollen Sie gefangen ſetzen laſſen? Herr Oberförſter, ich möchte irre an Ihnen werden. Hoffentlich nimmt Peters Ihren Befehl nicht wörtlich. Wir werden die Leute entſchädigen müſſen. Doch jetzt kommen Sie! Führt dieſer Weg nach dem Lerchenhübel? Bitte, gehen Sie voran!“

Schweigend gehorchte der Oberförſter, obwohl er auf den zweiten Teil der Jagd gern verzichtet hätte. Jetzt war nicht nur die Auerhahnjagd verdorben, ſondern der gütige Schloßherr zürnte ihm auch — und das mit Recht. Dabei konnte der Betrübte ſich nicht einmal damit tröſten, daß Peters die armen Leute gut behandeln werde. Sorgenvoll ſchritt er dahin. Gänzlich vergaß er zu citieren, was jetzt doch ſo gut am Platze geweſen wäre:

„Des Himmels Pforten thun ſich auf im Morgen, Und hoch errötend tritt, noch halb verborgen, Aurora in die nachtbedeckte Welt, Die noch der Schlaf in ſeinen Armen hält. Gleich Fackeln flammt’s an Bergeshöh’n empor, Der Himmel ſchwimmt in einem Feuerregen, Und wie ein wunderreiches Meteor Tritt bald die Sonne auf die Bahn voll Segen.“

II. Die Fee. Wenn man wieder einmal monatelang unter Menſchen gelebt hat, die durch­ einander haſten und kaum Zeit haben, ſich gegenſeitig freundlichen Gruß zuzu­ rufen; wenn nach langen Nebeltagen über dem Häuſermeere der Stadt ein klarer Himmel wieder ſommerlich blaut; wenn in das Gewühl der engen Straßen und auch zum geöffneten Fenſter herein linde Luft neue Frühlingsbotſchaft aus Feld und Wald bringt; wenn der Steinkohlendunſt des Winters mit den Veilchen­ duften des Lenzes im Streite liegt — dann zieht es uns hinaus, ach! von Jahr zu Jahr mehr, hinaus in den Wald, wo das Rauſchen der Bäume zu flüſtern ſcheint: „Vergiß deine Sorgen, du vielgeplagtes Menſchenkind; ich grüße dich von deinen jungen Tagen, ſende Mut und Kraft dir in dein Herz!“ Wie ſehnt man ſich doch, wenn wieder lau die Lüfte wehen, nach einem unbelauſchten, friedlichen Fleckchen im Walde mit ſeinem märchenhaften Zauber! Dort unter hohen Tannen und Fichten, unter Buchen und Birken mit jungem Laube, durch das goldige Lichter niederzucken auf die grüne Samtdecke, dort, bei der plätſchernden Quelle träumt es ſich ſo ſüß. Jedes Jahr fragt ſie mit leiſem Vorwurfe: „Warum kommſt du nur ſo ſelten zu mir? Weißt du nicht, daß einmal ein Sommer — wer weiß, ob nicht ſchon der nächſte! — in das Land ziehen wird, ohne daß du zu mir kommen kannſt?“ So heimlich lieb und traut iſt es dort draußen, daß das alternde Herz wieder jung ſich fühlt! —

So war es unſeren Fuhrwerksbeſitzern nicht zu Mute, obwohl ſie nun alle die von uns Stadtmenſchen erſehnten Dinge um ſich hatten: Frühlingswehen und

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Waldesrauſchen, ſchwellendes Moos und Quellengeſang und beglückenden Frieden, ein reines Paradies; dazu eine echt romantiſche Hütte, wie nur je ein Maler ſie gemalt. Kinder des Waldes, harzduftige Tannen- und Fichtenſtämme, denen der naturfreundliche Baumeiſter ihr Rindenkleid gelaſſen, bildeten ein Viereck, das mit Äſten und Rindenſtücken bedeckt war, nicht allzu dicht, damit der Ausguck nach Sonne oder Mond nicht verhindert würde. Der Bauſtil der Fenſter konnte dem Stile des Geſamtbaues nicht widerſprechen, ſie fehlten nämlich gänzlich; denn die vorhandenen Fugen und Spalten waren doch nicht als ſolche zu betrachten. Ein größeres Loch in dem Gefüge ſchien die Thüre vorſtellen zu ſollen. In der Nähe der Hütte kreuzten ſich mehrere Waldpfade, um ſich danach bald im Waldes­ dunkel zu verlieren. — Da drinnen ſaßen die drei Auerhahnverſcheucher mit be­ trübten Geſichtern. Wie kamen ſie hierher?

Zwar war es dem Vetter Andreas Peters, der durch das unverhoffte Zu­ ſammentreffen nicht minder überraſcht worden war als ſie, nicht ganz gelungen, ſein verdächtigendes Wort von den Wilddieben zu entſchuldigen; aber er hatte ſie doch nicht nach des böſen Oberförſters Befehl im Dorfe einſchließen laſſen und hatte auch — allerdings unter dringendem Hinweis auf ſchnelle, notwendige Heim­ kehr – ihnen eine Wendung ihrer Verhältniſſe zum Beſſeren in Ausſicht geſtellt. Freilich, fort mußten ſie auf der Stelle, und nie wieder ſollten ſie ohne ihn etwas wagen. Er war dabei recht heftig geworden. Aber Frau Peters hatte ſich nicht ſo ſchnell beruhigen laſſen.

„Daß wir den Herrn auffinden, iſt unſere letzte Hoffnung; wir leiden Hunger, haben nichts mehr zu verkaufen, und der Vater muß ins Bad. Der Herr wird uns helfen, er muß uns helfen; es geht nicht anders!“ So hatte ſie geſagt. Dein Vetter war aber ſehr viel daran gelegen, die ſo plötzlich erſchienenen, unbequemen Bitt­ ſteller ſchnell von der Bildfläche wieder zu entfernen. In ſeiner Verlegenheit hatte er ſich mit einer Notlüge — er hielt ſeine Unwahrheit für eine ſolche – beholfen.

„Der Herr, an den ihr denkt, iſt ja gar nicht da,“ hatte er geeifert, „deſſen Jagdſchloß liegt wohl zehn Meilen von hier, und dieſen Sommer kommt er gar nicht dorthin, da reiſt er nach Schleſien. Der Herr aber, der hier iſt, kümmert ſich um euch nicht mehr wie um einen Pappenſtiel. Macht, daß ihr fortkommt! Wenn man euch einmal einſperrt, dann kann ich euch nicht mehr helfen.“

„Da hat man uns ganz falſch berichtet,“ hatte die Frau geklagt; „ach, die böſen Menſchen! Nun haben wir den ganzen Weg umſonſt gemacht; die Anſtrengung kann dem Vater viel ſchaden.“

Der Vetter hatte ihnen Geld und viele ſchöne Redensarten gegeben und feſt verſprochen, mit ſolcher Kraft für ſie einzutreten, daß ein Erfolg nicht aus­ bleiben könne; ſie ſollten nur geduldig heimkehren. Sie hatten dies auch gewollt; aber der Zuſtand des Vaters verlangte dringend längere Ruhezeit, und ſo war denn der Vetter darauf gekommen, ihnen dieſes abgelegene Aſyl anzuweiſen. Danach war er fortgeeilt, um anderen dringenden Pflichten nachzukommen. Eine geheime Angſt, daß ihm doch noch Unheil ans der ganzen Sache erwachſen könne, wurde er dabei nicht los. Er hatte ja früher ſchändlich an den Leuten gehandelt und ihr Vertrauen ſchmählich betrogen.

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Jungen Leuten, wenn ſie auch ein noch ſo teilnehmendes Herz haben, kann man es nicht wohl begreiflich machen, wie finſter es in einem Menſchen ausſieht, den in großer Not eine Hoffnung um die andere trügt. Die Leute in der Hütte waren ſo unbeſchreiblich traurig und mutlos.

Der Vater litt offenbar ſchwere Schmerzen; die Mutter weinte, als müſſe ihr das Herz brechen; die Tröſtungen des Vetters wollten bei ihr nicht mehr ver­ fangen. Der Knabe ſchaute von einem zum andern und vergaß bei ſeinem Kummer die Bitte um Brot. Dabei ſchaute er auch zu den Ritzen in den Wänden hinaus ins grüne Reich des Waldes, in das um die Hütte golden niederflutende Sonnen­ licht. Da draußen wohnt die Waldfee; ob ſie wohl käme, wenn man ſie laut riefe? Da kriecht ein braunglänzender Käfer in der Ritze hin. Wo kommſt du her; wo gehſt du ſo eilig hin?

„Mutter, ich will vor die Hütte gehen!“ bat Hans ſchmeichelnd. „Ich komme gleich wieder.“

Ob die Mutter die Bitte gehört, wir wiſſen es nicht. Ein Blick aus Vaters Auge ſchien aber Hans Gewährung zu verheißen. So ſtand denn der Knabe bald in ſeinem ärmlichen Kleide vor der Hütte. Der Sonnenſchein umhüllte die jungen Glieder; leiſe ſpielte der Wind mit den lichten Locken. Was ſchreien da oben die Raben und Krähen? Ja ſo, ſie haben einen Hühnerhabicht entdeckt, einen kecken Räuber. „Weiche, weiche aus unſerm Gebiet!“ kreiſchen ſie; „was hier zu ſtehlen iſt, nehmen wir ſelber!“ Hans verſteht das nicht; er meint, ſie reden ihm zu, immer die Fee zu ſuchen. Eine Amſel pfeift vom Bache her. Springt nicht da oben ein Eichhorn? Hans ſah und hörte das alles.

Jetzt ſchritt er vorwärts.

Da — was war das? Da grüßte ihn eine Fee dort vom grünlichen Felſen her, eine engelſchöne Fee in himmelblauem Gewande. Der kleine Hans hatte es nicht wohl ſehen können, woher die freundliche Erſcheinung gekommen war, aber wir hätten es bemerken müſſen, wenn wir ausgeſchaut hätten.

Dort den geebneten Waldpfad her war die Fee gekommen mit zwei anderen Feen und einem gar feinen Diener in glänzender Kleidung. Dieſer trug ver­ ſchiedenes Gerät, darunter eine kleine Staffelei, einige Käſtchen, Feldſtühle und einen Teppich. So leicht und leis waren ſie gekommen, als ob ſie wirklich der Feenwelt angehörten. Die vorderſte der Damen in dem himmelblauen Kleide gewahrte den Hans vor der Hütte zuerſt und war ſofort von dem reizenden Bilde, das er in ſeiner Unſchuld darbot, eingenommen; ſie war ja Malerin. Sie befahl ihrer Begleitung, zurückzubleiben und ging auf Hans zu, ihm freundlich winkend.

Hans ſpürte nun nichts mehr vom Walde und dem Leben darin; er ſah nur die Fee. Wie ein Zauberſchein ſtrahlte der Blick aus ihren Augen ihm entgegen. Als ob er dieſem Banne folgen müſſe, ſchritt er näher und näher. Jetzt faßte die Fee gar mild und ſanft nach ſeinem Händchen uud ſprach mit beſtrickender Stimme:

„Du herziges Bürſchlein, komm ganz her!“

Ein tiefinniges Vertrauen leuchtete aus den Augen des Kindes der Dame entgegen.

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Biſt du die Fee?“ fragte der Knabe.

„Die Fee?“ antwortete die Dame erſtaunt; ſchnell fand ſie ſich in die ihr angewieſene Rolle und fuhr fort:

„Vielleicht — für dich. Und wer biſt du?“

„Der Hans!“ klang es kurz zurück, als ob ſich dies von ſelbſt verſtünde.

Die Feenſchaft der Dame erlitt durch ihre menſchliche Unkenntnis verratende Frage in Hanſens Augen keine Einbuße. Er zeigte überhaupt eine ſo zuver­ ſichtliche und ſiegesgewiſſe Miene, als ob er die ganze Sachlage in erwünſchter Ordnung fände. Und er ward denn auch ſo mitteilſam, daß die Dame, ohne große Fragekunſt anwenden zu müſſen, bald klar war über alle Wünſche des kleinen Herzens und über die Notlage der Familie. Sie hatte gehört, daß Haus von der Fee erwarte, ſie werde ihn und die Eltern mit Kuchen und Wein ſpeiſen, dann in ſchönem Wagen nach Hauſe fahren und Geld, viel Geld geben für Brot und für den Vater zum Bade, damit er nicht ſterben müſſe. Aus den Augen des lieben Kindes waren dabei zwei Thränen hervorgerollt, die hatten der Dame koſtbarer geſchienen als teure Perlen aus des Meeres tiefunterſtem Grunde. So kam es, daß ſie zum nicht geringen Erſtaunen ihrer in einiger Entfernung ver­ harrenden Begleitung mit dem Knaben an der Hand in der Hütte verſchwand.

Was da drinnen alles geſprochen ward? Wer weiß es? Das Bächlein, das geſchwätzig ſchnell vorbeifloß, hielt nicht einen Augenblick an in ſeinem Laufe, um zu horchen, und es hätte doch viel Gutes vernehmen können.

„Wohl,“ ſagte die eine Dame der Begleitung, ihr Haar war ſchon mit einigen Silberfäden, den erſten Boten des Alters, durchzogen, „wohl hat Gott unſerer teuren Herrin das Glück nicht beſchert, eigne Kindlein zu hegen und zu pflegen; dafür aber iſt ſie eine Mutter für alle Kinder weit und breit.“

„Und für die armen zumeiſt,“ ſagte die zweite Dame, die jünger, aber auch recht freundlich war.

„Gott ſegne ſie reich; ſie iſt eine Mutter auch für uns Alte!“ fügte der Diener halblaut hinzu.

III. Im Schloſſe.

Bald bewegte ſich das uns bekannte Gefährt wieder durch den Wald hin, diesmal auf dem bequemen Wege, welchen die Damen und der Diener vorhin gekommen waren. Zu Hanſens nicht geringem Erſtaunen hatte die Fee nach län­ gerer Unterhaltung mit den Eltern ohne ſonderliche Mühe hilfreiche Hände herbei­ gerufen, die den Vater mit dem weichen Teppich umhüllten. Ob der die Mutter im Ziehen des Wagens vertretende würdige Alte auch in das Feenreich gehörte, das hätte Hans gar gern gefragt und vieles andere noch dazu. Neben dem Wagen ſchritt nun die gütige Fee, liebreich dem Kranken Troſt zuſprechend. Die anderen Feen gingen mit Hans und der Mutter.

Die Dame mochte wohl rechtes Erbarmen mit dem Invaliden haben, deſſen hohler Huſten in der That beängſtigend klang; ſie vergaß neben ihm ſcheinbar die übrigen. Mit tiefem Bedauern hatte ſie in der Hütte die Leidensgeſchichte

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der Familie angehört und auch vernommen, daß dieſe das Schloß des Herrn, welcher helfen ſollte, jetzt meilenweit ſeitwärts wähnten. Auch den ſchriftlichen Bericht hatte ſie erhalten. Da war ihr denn klar geworden, wie ſie am beſten helfen könne. Noch hatte ſie aber ihren Namen und Stand nicht verraten.

Als Frau Peters jetzt die Gelegenheit für günſtig hielt, eine ihr zur Seite gehende Dame danach zu fragen, vernahm die Herrin dies doch. Sich zurück­ wendend rief ſie:

„Sagen Sie einfach: Frau Albert. Das genügt.“

Die anderen Damen lächelten unwillkürlich, und Frau Peters hatte alle Ver­ anlaſſung, dieſe Auskunft gegenüber ihrem in verſchwenderiſcher Ausführlichkeit gegebenen Familienbericht als eine magere Gegenleiſtung zu betrachten. Jetzt tauchte vor ihren Augen das uns ſchon in früher Morgenſtunde bekannt gewordene Jagdſchloß auf. Hell blitzten deſſen Fenſter in der Sonne.

Was Hanſens kindliche Seele zu hoffen ſich erlaubt hatte, geſchah. Der Zugführer lenkte hinein. Da hielt Hans Augen und Ohren offen; denn das paſſiert einem nicht alle Tage, in ein Feenſchloß eintreten zu dürfen. Dort hinter dem Gitter graſten zwei zahme Rehe. Fröhlich bellende Hunde ſprangen den Ankommenden entgegen.

„Sie bellen ganz natürlich, die Feenhunde,“ meinte der beobachtende Knabe. Nicht ohne Verwunderung fah er auch die vielen Hirſchgeweihe, welche den Haus­ flur ſchmückten. Deſſen hätte er ſich von einem Schloſſe zarter Feen nicht in erſter Linie verſehen. Dafür fand er ganz in der Ordnung, daß man ihn und die Eltern in ein behagliches Zimmer brachte und ihnen alsbald allerlei Speiſen und Getränke, darunter auch den erhofften Kuchen und Wein, vorſetzte. Überlaſſen wir es ihnen, damit fertig zu werden. —

Auch am Lerchenhübel hatte ſich das Jagdglück nicht gut gelaunt gezeigt. Als die beiden Jäger heimkehrten, konnte man von dem Geſicht des aller Ver­ ſtellung rein unfähigen Oberförſters Redlich eine ganze Stufenleiter widerwärtiger Empfindungen ableſen. Wiederholentlich hatte er ſich heute leiſe gelobt, nie wieder vor einem Pirſchgange Verſe zu ſagen, weder Döringſche noch andere. Die nach den Jägern ausſchauende Schloßherrin, die blaue Fee, ſah mit der Liebe ſcharfem Auge, daß auch ihrem Gemahl die volle Zufriedenheit fehlte, obwohl er ihr ſchon von weitem grüßend winkte. Das that ihr leid; denn ſie wünſchte dem Geliebten, dem ſeine Stellung allezeit ſchwere Sorgen brachte, von Herzen heitere Erholung. Doch ſie wußte ſchon, daß ſein elaſtiſcher Geiſt kleine Verſtimmungen bald über­ winde. Der Aufenthalt im Walde, ob mit oder ohne Jagderfolg, und ihre für­ ſorgende Liebe waren ihm Haupterforderniſſe zur Erhaltung ungetrübter Gemüts­ ruhe. Der irdiſche Reichtum hatte die beiden nicht verwöhnt.

Trotzdem hielt es die Herrin für rätlich, mit ihrem Bittgeſuche für ihre ein­ geſchmuggelten Armen noch ein wenig zu warten und ſomit eine Tugend zu üben, die vielen anderen Menſchen bedauerlicherweiſe abgeht.

Kaum in den Schloßhof eingetreten, ſchickte der Oberförſter einen zuverläſſigen Diener nach dem Dorfe mit dem beſtimmten Auftrage, die dem Gemeindevorſtande übergebenen Leute ſofort in das Schloß zu bringen — aber hübſch manierlich;

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der Schloßherr wolle ſie ſprechen. Als er danach dem Herrn in eines der Schloß- zimmer folgte, fand er bei ihm die Herrin, die lächelnd den Jagdbericht ihres Gemahls vernahm. Sie verſtand dabei ſo liebenswürdig zu ſcherzen, daß auch von des Oberförſters Stirn langſam die Wolken des Mißmuts verflogen,

Inzwiſchen kam der ausgeſandte Bote zum Gemeindevorſtand und brachte ſein Anliegen vor. Der ſchüttelte anfangs den Kopf.

„Mir ſind keine Leute übergeben,“ ſagte er nachſinnend; „doch der Tauſend, ſollte der Herr Oberförſter die meinen? Geſtern brachte der Gendarm zwei Spitz­ buben, zwei Zigeuner; die ließen wir im Gemeindehauſe einſperren. Sollte der Herr ſich für dieſe intereſſieren?“

„Das weiß ich nun zwar nicht,“ ſagte der Diener, „aber wenn keine anderen Leute da ſind, ſo ſind jedenſalls dieſe gemeint, und wir müſſen ſie in manierlicher Art hinbefördern.“

Der Gemeindevorſtand brummte allerlei; endlich ward er mit dem Diener einig, behufs geeigneter Transportierung der plötzlich intereſſant gewordenen Vaga­ bunden ſeine Staatskutſche zu benutzen.

„Das mag geſchehen,“ erwiderte der Diener.

So widerfuhr denn den Zigeunern das Unerwartete, zur Belohnung für ausgeführte Diebereien in des Dorfes beſter Kutſche nach Hanſens Feenſchloß gefahren zu werden. Ob ſie im Anſchluß an dieſes Feenkunſtſtück auch auf ein wohlvorbereitetes Frühſtück hofften, darüber hatten ſie nicht Zeit, ſich auszu­ ſprechen; denn der Vorſtand, der es ſich nicht hatte nehmen laſſen, ſelbſt zu kutſchieren, hieb gewaltig auf die Pferde ein und brachte ſo ſeine koſtbare Ladung ſchnell in das Schloß. Dort wurden die ſchwarzen Geſellen in ihrer vollen Un­ ſauberkeit — es blitzte nichts an ihnen als die liſtigen Äuglein — vor den Herrn gebracht. Das war demſelben doch zu arg. Der Oberförſter ſah ganz verdutzt drein. Die Dame ſtaunte; ſie wußte nicht, auf weſſen Antrieb dieſer Beſuch herbeigeführt worden war. im Selbſtgefühl treuer Pflichterfüllung ſtanden hinter den Strolchen der Diener und der Gemeindevorſteher. Lachend beſchaute die ſtrahlende Sonne das ſeltſame Bild.

„Wollen Sie mich aufklären, Herr Oberförſter?“ ſagte der Herr froſtig.

Der redliche Forſtmann wußte aber ſelbſt nicht, wie ihm geſchah, und konnte mit dem beſten Willen nicht erklären, wie und wodurch die Verwandlung des In­ validen, deſſen Frau und Jungen in zwei vollwichtige Zigeuner möglich geworden war. Daran konnte die Dichterei doch nicht ſchuld ſein!

„Ich will, daß man mir den kranken Soldaten mit ſeiner Familie vorführe,“ ſprach jetzt der Herr. Damit wandte er ſich und trat in ein Nebenzimmer. Seine Gemahlin folgte ihm.

Da ſtand denn nun der Oberförſter mit den wie aus allen Himmeln gefallenen vier Perſonen. Die Unglückszigeuner faßten ſich zuerſt und ſchienen in Ruhe und Geduld abwarten zu wollen, inwieweit das in Ausſicht ſtehende Hagelwetter ſie treffen werde. Nachdem die nötige Entfernung von den herrſchaftlichen Zimmern gewonnen war, brach der Sturm in aller Gewalt los. Der Oberförſter übertraf ſich ſelbſt in urderben Wendungen, als ob er Hoffnung hege, damit die Zauber­

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formel für die wünſchenswerte Rückverwandlung der Perſonen zu finden. Der Gemeindevorſtand, den der Diener treulos verließ, verſicherte wiederholt, daß ihm andere Leute nicht übergeben worden ſeien; ſein Einwurf fand aber nicht die verdiente Würdigung. Endlich wurde er auch unhöflich und fuhr, ohne Ab­ ſchied zu nehmen, mit ſeinen Zigeunern davon, nur die ſehr wahren Worte zurück­ rufend:

„Sie können reden, was Sie wollen, Herr Oberförſter, hexen kann ich aber keinen Soldaten, weder ohne, noch mit Familie.“

In ſeiner Not fiel dem Oberförſter endlich Peters ein, welchem er mit gutem Grunde die alleinige Schuld an dieſem letzten Ärgernis zuſprach.

„Der muß herzu!“ ſchnaubte er mehrere Diener an, die ſich am Schauſpiel ergötzt hatten, nun aber das Geſicht in ernſte Falten zogen. Mit der ſcharfen Weiſung, ſchnellſtens den Verlangten anherzuliefern, ſandte er ſie nach verſchiedenen Seiten aus. Er ſelbſt ſtürmte eine Strecke in den Wald hinein.

„Der ganze Tag iſt verpfuſcht,“ zürnte er dabei weiter, „was fällt mir auch ein, frühmorgens die Waldnacht anzuſingen, als ob ich ein lyriſch geſtimmter Jüngling wäre! Der Herr traf gleich früh den Nagel auf den Kopf. Ein Jäger mag das Dichten anderen Leuten überlaſſen!“

Inzwiſchen hatte die Dame mit ihrem Gemahl ein Zwiegeſpräch. Hierbei betonte derſelbe:

„Jeder brave Menſch verdient Ehre und, ſofern es not thut, Teilnahme und Unterſtützung; ein braver Soldat aber iſt mir ein Kamerad — und, wenn er das eiſerne Kreuz trägt, ein lieber Kamerad. Iſt ein ſolcher Ehrenmann aber krank, vielleicht krank infolge von Kriegsſtrapazen, und will ſich mir nahen, ſo ſoll ihn niemand von mir weiſen. Das hat unſer Oberförſter zwar nicht gewollt, dazu trägt er ſeinen Namen mit zu großem Recht; allein er ließ ſich durch ſeinen Jagd­ eifer zu einem ungeſetzlichen Befehl hinreißen und führt mir nun — zwei Vaga­ bunden vor.“

„Das iſt eine Verwechslung; dafür kann der gute Redlich ſicher nicht,“ meinte die Gattin begütigend.

„Glaube wohl; doch dieſe ſatale Verwechslung ſcheint mir ein Beweis dafür, daß man die unſchuldigen Leute gleich dieſen Zigeunern in ehrverletzender Weiſe eingeſperrt hat.“

„Ich glaube ſelbſt, daß dieſe Familie gefangen ſitzt,“ entgegnete ſie lächelnd, „wer weiß aber, ob derſelben dies unangenehm iſt!“

„Was?“ klang es fragend zurück.

„Bedenke auch, die Leute haben ein wenig Strafe immerhin verdient; ſie ſtörten dir die Jagd, und dem Oberförſter war deren guter Verlauf doch Ehren­ ſache; zudem war die Frau ſehr hitzig ihm gegenüber.“

„Das ſehe ich alles ein; deswegen kann aber die Frau doch brav und wie die Ihrigen ehrenhaft ſein.“

„Soll ich ihnen helfen?“

„Diesmal kommſt du zu ſpät, liebe Allerweltshelferin; du ſiehſt, wie es mir ſelber ſchwer gemacht wird, das ihnen zugefügte Unrecht auszugleichen.“

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„Vielleicht könnte ich es doch; ich fühle mich heute ſo ganz als Fee.“

„Für mich biſt du es ſtets, du Teure; in dem vorliegenden Falle aber kannſt du jetzt nicht helfen; ſpäterhin magſt du immer deinen mildthätigen Sinn auch nach dieſer Seite bethätigen.“

„Mich hat heute ſchon ein fremder Mund Fee genannt; habe Reſpekt vor meiner Kunſt!“

„Möglich, du findeſt ja immer bedürftige Weſen auf. Prüfe ja, ob ſie deine Liebe verdienen!“

„Soviel wie deine Schützlinge gewiß.“

„Hm, der Mann war Soldat.“

„Das macht’s noch nicht, der Forſtgehilfe Peters war auch Soldat und iſt gar nicht brav.“

„Sage das nicht ſo ſchnell! Und wenn auch, mein Soldat hat das eiſerne Kreuz!“

„Mein Schützling auch!“

„So? auch?“ Der Herr fixierte ſeine Gemahlin ſcharf. Als er fand, daß ſie in vollem Ernſte redete, fuhr er fort: „Mein Soldat hat Familie.“

„Meiner auch.“

„Eine Frau und einen kleinen, hilfloſen Jungen.“

„Meiner auch.“

„Und iſt ganz arm und ſehr krank.“

„Meiner auch.“

„Und muß in einem Wagen gefahren werden.“

„Meiner auch.“ Und damit umarmte ſie den verwunderten Gatten. „So glaube es nur, deine Fee iſt dir in deinem guten Werke zuvorgekommen, und meine Schützlinge ſind die deinen.“

„Aber, Kind, wie geht das zu?“

„Feenhaft, mein lieber Herr, wie ſonſt? Hier, lies dies!“ Damit nahm ſie das Bittſchreiben des Invaliden aus ihrer Taſche.

„Du weißt alſo mehr von ihnen?“

„So gut wie alles!“

„Da haſt du ſie wohl in der Nähe?“

„Gut geraten! Doch lies nur, das Schreiben iſt an dich gerichtet, dann ſollſt du ſie ſehen und hören.“

Mit wachſendem Staunen hatte der Schloßherr ſeine Gemahlin betrachtet, als ob es gar noch möglich wäre, daß ſie unter Roſenſchein und Roſenduft vor ſeinen Augen entſchwinde. Sie aber ſchlang ihren Arm in den ſeinen und wieder­ holte: „Lies nur!“

Der Herr entfaltete das Papier und las mit Aufmerkſamkeit, was darauf geſchrieben war. Die Darſtellung war umſtändlich und bedurfte mitunter eines erklärenden Wortes der Dame. Geben wir hier den Bericht nach unſerer Weiſe:

Der Bittſteller Auguſt Peters war aus den erſten Schlachten des deutſch­ franzöſiſchen Krieges, an denen Sachſen beteiligt waren, unverwundet und mit Ehren hervorgegangen. Bei St. Privat hatte er ſich bereits das eiſerne Kreuz

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verdient. In der großen, blutigen Schlacht bei Sedan am 1. September 1870 hatte er ſich wieder ausgezeichnet. Es war dies im Kampfe gegen die Zuaven geſchehen, welcher, nachdem die Munition verſchoſſen war, mit Kolben und Hirſch­ fänger hatte geführt werden müſſen. Der Befehlshaber des Bataillons, ein Major Graf von Holtzendorff, hatte Peters danach öffentlich belobt. Auch in dieſer für die braven Sachſen ſo mörderiſchen Schlacht war er unverwundet geblieben; aber er hatte ſich dabei eine ſo gefährliche Erkältung zugezogen, daß er im Lazarett nur mit Mühe dem Leben erhalten werden konnte. In die Heimat entlaſſen, hatte er unter der Pflege ſeiner Frau Beſſerung gefunden und leichtere Arbeiten wieder verrichten können. Auch war ihm eine angemeſſene Penſion bewilligt worden. Da war es ihnen nicht nötig erſchienen, von der ihm durch den genannten Grafen erteilten ſchriftlichen Empfehlung für Übertragung einer geeigneten Stellung oder zur Erlangung der Mittel für eine Badekur Gebrauch zu machen. Später aber war ſein Leiden in erneuter Heftigkeit wiedergekehrt. Bald hatte er gar nichts mehr verdienen können. Dazu war die Penſionsſumme gekürzt worden. Dem Zureden des Vetters folgend, hatte man dieſem zu weiterer Benutzung, natürlich im Intereſſe der Familie, die gräfliche Empfehlung und auch den letzten Notpfennig anvertraut, alles ohne Erfolg.

Dies und mehr noch las der Herr aus dem Berichte, der mit der dringenden Bitte um Abhilfe des eingetretenen Notzuſtandes ſchloß.

„Die Familie iſt zu bedauern,“ ſagte der Herr; „ſie iſt ſchmählich behandelt und betrogen worden. Bitte, führe mich zu ihr!“

Das that die edle Dame gar gern. Auf dem Wege zu den Armen flüſterte ſie ihm noch zu:

„Sie kennen mich bloß unter dem Namen Frau Albert; wenn es dir recht iſt, laſſen wir ſie dabei.“

Als das Paar in das Zimmer trat, in welchem den aufgetragenen Lecker­ biſſen wacker zugeſprochen worden war, und der Invalid den Herrn ſah, ging eine große Veränderung in ſeinem Geſicht vor. Er wollte reden; infolge großer Auf­ regung brachte er aber nicht einen Laut hervor. Auch ſchien es, als wolle er ſich erheben; doch blieb es natürlich bei dem ſchwachen Verſuche.

Der Herr trat auf ihn zu.

„Still, kranker Kamerad,“ ſprach er, „reden Sie nicht, bleiben Sie ganz ruhig! Ich komme in der Abſicht, Ihrem Mißgeſchick abzuhelfen, und bin dabei nichts anderes als“ — er lächelte ſeiner Gemahlin zu — „als der Mann dieſer Dame hier, alſo kurz: Herr Albert!“

Mit leuchtenden Augen ſaß der Invalid da; die Hände lagen gefaltet in ſeinem Schoße, als wäre er in der Kirche. Die Frau ſtand neben ihm und wartete beſcheiden ab, was weiter erfolgen werde. Hans ſtaunte, daß die Fee auch einen Gatten beſaß. Von ſolcher Ausdehnung der Feenrechte hatte ſich ſein Knaben­ verſtand nichts träumen laſſen.

Die Dame zog den Knaben an ſich heran und ſtrich ihm leiſe über die blühen­ den Wangen. Der Herr begann zu examinieren. Sein Blick ruhte dabei mit durch­ dringender Kraft auf dem Antlitz, der Frau Peters, ſo daß dieſe hinterher ſagte:

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„In ſolche Augen habe ich noch nicht geſehen. Da ſchauten Milde und Geduld zugleich aber auch Feuer und Kraft heraus. Ich glaube, dem Herrn könnte kein Menſch in das Angeſicht lügen.“

Abbildung zu der Erzählung „Die Waldfee“. Abbildung zu der Erzählung „Die Waldfee“.

Bei dem Verhöre ſtellte ſich denn nun mit voller Gewißheit heraus, daß die Familie Peters von dem Forſtgehilfen ſchmählich übervorteilt worden war. Der­ ſelbe hatte volles Vertrauen genoſſen, alle Quittungen unterzeichnet, die Penſions­ beträge einkaſſiert — kurz, ohne bisher zur Rechenſchaft gezogen worden zu ſein, den Kranken in ſeinen wenigen Rechten vertreten — und ihm auch noch bares Geld abgeſchwindelt. Wären die Betrogenen nicht mit einem letzten Reſte von Thatkraft aufgebrochen, um perſönlich Hilfe zu ſuchen, hätte man nicht infolge glücklichen Zuſammentreffens verſchiedener Umſtände auf ſie aufmerkſam werden müſſen, ſo wäre ihnen wohl niemals eine Hoffnung auf Beſſerung geworden.

Frau Peters wußte zwar noch nicht, daß ſie den geſuchten, vielvermögenden Herrn vor ſich hatte; aber ſie fühlte unter ſeinem Schutze trotzdem eine gar große Beruhigung.

„Sie vermögen uns ſicher zu helfen, edler Herr; ach, thun Sie es um Gottes willen!“ bat ſie inſtändig. „Hungern iſt ſchlimm, und wir waren immer ordentlich und haben noch nie gebettelt. Helfen Sie uns! Wenn Sie ſich erbarmen, wird auch unſer Vater nicht ſterben. Wir haben niemand auf Gottes weiter Welt, der uns hilft. Auf den Vetter können wir uns doch nicht verlaſſen.“

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„Das ſcheint mir auch ſo, liebe Frau,“ antwortete der Herr, „gebt Euch zufrieden, Euer Recht wird Euch werden!“ —

Als der Oberförſter ſich einigermaßen beruhigt hatte und in das Schloß zurückkehrte, hörte er von dieſer ſonderbaren Geſchichte, die ihm in ihrer Ab­ ſcheulichkeit faſt unmöglich ſchien.

„Ihr Befehl von heute morgen“ ſprach der Schloßherr, „war ungeſetzlich und unverzeihlich, ob Sie auch die Störung verdrießen mußte. Helfen Sie mir nun, den Betrüger zu entlarven. Ich möchte, daß er ungewarnt vor mich tritt, und zweitens, daß die Dorfpolizei unter Vermeidung von Aufſehen — alſo ohne Kutſche — in das Schloß kommt. Wollen Sie das übernehmen, Herr Oberförſter, ſo bin ich Ihnen dankbar.“

Selbſtverſtändlich war der Oberförſter gern bereit, dieſen Wünſchen nach­ zukommen. So geſchah es, daß der Forſtgehilfe Peters die Ehre hatte, ſchon weit vor dem Schloſſe von ſeinem Vorgeſetzten in Empfang genommen zu werden und ſich ſeiner Begleitung zu erfreuen. Luſtig pfeifend war er dahergekommen. Hatte er ſich doch überzeugt, daß ſeine Verwandten aus der Waldhütte verſchwunden waren. Der Oberförſter ging ſchweigend neben Peters her, da es ihm nicht möglich war, gleichgiltige Worte zu ſprechen und er auch nichts verraten wollte. Peters kannte ihn zu genau; er wußte nicht, was er denken ſollte. Das Schweigen ſeines Vorgeſetzten, deſſen ſonderbare Seitenblicke machten den Dreiſten betreten.

„Herr Oberförſter,“ ſagte er mit ſcheinbarer Offenheit, nur um ein Geſpräch in Gang zu bringen, „werden Sie verzeihen? Ich habe die Leute, welche uns die Jagd ſtörten, davonziehen laſſen. Ihr Befehl war doch etwas ſtreng. Ich meinte Sie würden hinterher damit einverſtanden ſein.“

„Hm, hm!“ brummte der Oberförſter.

„Was ſoll das heißen? Ein andermal würde er auffahren. Ich muß ihn zum Reden veranlaſſen.“ Hierauf ſagte Peters laut:

„Es war recht ärgerlich, der Auerhahn hatte einen ausgezeichneten Stand. Den Herrn verdroß es wohl auch ſehr. Da kann ihm aber nichts helfen. Wir hatten die meiſte Mühe damit.“

„Unterlaſſen Sie ein für allemal ſolche nichtswürdige Bemerkungen!“ ver­ ſetzte der Oberförſter ernſt.

Ohne daß Peters den Mut faſſen konnte, nach dem Warum zu fragen, wurde er vor den Schloßherrn geführt. Aus einem Nebenzimmer trat auch deſſen Gemahlin herzu, die Verbindungsthür offen laſſend.

Nun begann das Verhör, deſſen Einzelheiten wir übergehen. Die Aus­ flüchte und Lügen des böſen Menſchen verdienen unſere Aufmerkſamkeit nicht. Genug, von den Fragen des jetzt ſehr ſtrengen Herrn hart bedrängt, verwirrte er ſich in ſeinen Ausſagen. Als nun gar aus dem Nebenzimmer Frau Peters mit Hans hereintrat und der Kranke auf einem Rollſtuhle hereingefahren ward, da erblaßte der Betrüger. Traurig ſah der Invalid auf den Treuloſen hin, deſſen frecher Mut jetzt zuſammenbrach.

Seine Schandthaten wurden offenbar. Die Penſionsſumme war nie gekürzt worden, ſondern jahrelang zum größten Teile in des falſchen Peters Taſche

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gefloſſen. Umſonſt berief ſich der Schlaue darauf, daß eine Urkundenfälſchung, alſo ein beſonders hart zu beſtrafendes Verbrechen, ihm nicht nachgewieſen werden könne, da er die Quittungen mit A. Peters unterzeichnet habe, was auch ſein Name ſei, und daß ihm die leichtſinnige Gutmütigkeit ſeiner Verwandten den Betrug an die Hand gegeben habe. Der Herr entgegnete abweiſend, man werde das vor Gericht ſchon genau unterſuchen.

So ſah denn der falſche Mann keinen Ausweg mehr vor ſich. Nun ſollte und mußte er ernten, was er geſäet hatte. Zerknirſcht geſtand er endlich auch ein, daß er die gräfliche Empfehlung zur Erlangung ſeiner gegenwärtigen Stellung und den letzten Notpfennig der Familie in ſeinem alleinigen Nutzen verwandt habe.

Die Dorfpolizei war demnach nicht vergebens herbeigerufen worden. Sie hatte Grund genug, den tiefgeſunkenen Mann feſtzunehmen und fortzuführen nach dem Landgerichte einer größeren Stadt, deren Vergnügungen er nach der Meinung ſeiner Wirtshausfreunde immer erſehnt hatte. Niemand wagte, für ihn zu bitten; niemand mochte ihn auch bedauern, als man von ſeiner Beſtrafung hörte.

Frau Peters bekam eine ſehr eindringliche Verwarnung wegen ihrer Ver­ trauensſeligkeit. Sie ſchlug zwar jetzt in großer Aufregung über ſolche unerhörte Bosheit die Hände über dem Kopfe zuſammen, erkannte aber ihre Schuld und klagte ſich ſelbſt ſtreng an. Unter ihrer Verantwortung war alles geſchehen. Ihr ſonſt mehr überlegender Mann war durch ſein langwieriges Körperleiden auch im Wollen geſchwächt worden. Trotzdem hatte er ſie zu verſchiedenen Malen ge­ warnt. Laut gelobte ſie, von nun an beſonnener zu handeln. – Der Herr winkte ihr, zu ſchweigen, und wandte ſich zu dem Oberförſter:

„Zwiſchen uns bedarf es keiner Auseinanderſetzungen weiter. Sie ſind nach wie vor mein redlicher Redlich. Wollen Sie für Ihren allzugroßen Jagdeifer noch etwas büßen, ſo ſorgen Sie nur freundlichſt dafür, daß dieſe braven Leute mit dem Notwendigſten verſehen und in einem bequemen Wagen nach Hauſe ge­ bracht werden. Dann aber müſſen Sie uns auch weiter helfen, mir, wie auch meiner Gemahlin, welche bei jedem guten Werke, das in meiner Nähe geſchieht, faſt immer den Hauptanteil hat, und darüber nachdenken, was für dieſe unſere Jagdſtörer noch zu thun iſt.“

Tief ergriffen bückte ſich der alte Forſtmann und küßte ſeinem gnädigen Herrn die Hand; begeiſtert ſtrahlten dabei ſeine Augen. Dieſer aber wandte ſich nun zum Kranken und ſprach:

„Kamerad, was Ihre Frau in dem vorliegenden Falle verſehen hat, haben geſchickte, mir ſo liebe Hände wieder gut gemacht. Der liebe Gott wird es nun auch fügen, daß Sie wieder geſund werden. Wollt Ihr mir aber,“ damit ſchaute er auf beide Eheleute, „ein wenig dankbar ſein, ſo betet daheim und lehrt Euer Kind das gleiche Gebet, daß Gott zum Segen für mich und für ſo viele weit und breit lange noch erhalte — meine innigſtgeliebte Gattin!“

Dem Invaliden rollten zwei Thränen über die bleichen Wangen; Frau Peters ſchluchzte laut. In die troſtloſe Nacht ihres Elendes war ein heller Strahl hoffnungſpendender Liebe gefallen. So kam es, daß ſie weinten. Ihre Thränen waren nun nicht mehr vom Kummer erpreßt, es waren Dankes- und Freudenthränen.

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Hans hatte die Vorgänge des Tages nicht in ihrer ſchwerwiegenden Be­ deutung erfaßt; aber das ſah er, daß ſeine Fee eine Hauptperſon dabei geweſen war. Er ſuchte allein ihre lieben Augen, aus denen ein Himmel voll ſtillen Glücks ſtrahlte. Er erhob die kleinen Ärmchen — und ſieh, was geſchieht? Die Dame mit dem herrlichen Gemüt neigt ſich hernieder und läßt ſich von Hänschen umſchlingen.

„Haſt du mich lieb?“ fragte ſie leiſe.

Da nickte Hans ſelig.

Nicht viel, aber doch gar Schönes iſt noch zu erzählen. Feenhaft war die Heimfahrt der Familie Peters. In einem herrlichen Wagen, der noch mancherlei ſchöne und nützliche, auch etliche eßbare Geſchenke für ſeine Inſaſſen barg, gewiegt auf ſchwellenden Polſtern, kamen die in der Nacht ſo armſelig Ausgezogenen zum großen Erſtaunen aller Nachbarn in ihr Dörfchen zurück. Wenige Tage darauf brachte ſie derſelbe Wagen zur Eiſenbahnſtation. Alle drei mußten ins Bad reiſen, wo ſie bequem untergebracht wurden. Die Badekur war von gutem Erfolg begleitet. Der Invalid lernte ſeine Gliedmaßen wieder gebrauchen. Wer ihn mit ſeiner Frau und ſeinem Hans im Kurgarten ſpazieren gehen ſah, erſt an Krücken, dann frei und aufrecht, der hätte in ihm und den Seinen die traurigen Gäſte der einſamen Waldhütte nicht wieder erkannt. Ihres Glückes ſich erfreuend, kehrten ſie heim. War ihnen Gnade erwieſen worden, ſo wurde ihnen nun auch ihr Recht gewährt. —

Was den wahren Namen der wohlthätigen Herrſchaft anlangt, ſo iſt nur zu melden, daß Frau Peters längſt genaue Auskunft darüber erhalten hatte. Hans wollte ſich aber nicht belehren laſſen; er blieb noch lange dabei:

„Die gute Dame war die Waldfee.“

Als er ſpäter groß genug war, um einzuſehen, daß es trotz ſeines Märchen­ buches Feen, wie man als Kind ſie ſich erträumt, heutzutage nicht mehr giebt, da ſagte er, was allen wohl gefallen dürfte:

„Die edle Dame iſt ein Engel!“

RichardRother.