Kapitel 91. Halsbrücke und der höchſte Schornſtein der Welt.

Der Reiſende, welcher zum erſten Mal auf der Eiſenbahn von Dresden nach Freiberg fährt, blickt gewöhnlich höchſt verwundert aus dem Fenſter ſeines Wagnis, wenn der Zug bei den Muldener Hütten anlangt und auf hoher Brücke die Freiberger Mulde überſchreitet, an deren rauchgeſchwärzten und unfrucht­ barem rechten Ufer hier die königlichen Schmelzhütten und die Münze liegen. Begierig fragt er: „Woher kommt es, daß in der Umgebung dieſer Hüttenwerke nur ein ſo kümmerlicher Pflanzenwuchs zu finden iſt?“ Gewöhnlich wird er zur Antwort erhalten: „Daran iſt der Hüttenrauch ſchuld.“ Und der Fragende ſucht ſich nun ſelbſt zu erklären, warum hier der Rauch viel ſchädlicher wirkt als etwa der Qualm, welcher über großen Fabrikorten lagert. Ob der Nachdenkende aber immer die richtige Erklärung findet, iſt zweifelhaft.

Allgemein bekannt dürfte ſein, daß in den Schmelzwerken zu Muldenhütten und Halsbrücke — letzterer Ort etwa 4,5 km nördlich von Freiberg gelegen – die durch den ſächſiſchen und auch durch ausländiſchen Bergbau gewonnenen Erze

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auf Gold, Silber, Blei, Kupfer, Zink u.ſ.w. „verhüttet“ werden. Dieſe Metalle ſind faſt immer mit Schwefel und Arſenik aufs engſte verbunden, und eben dieſe Verbindungen, welchen ſich oft auch erdige Beſtandteile zugeſellen, nennt man Erze. Die Metalle von ihren Zuſätzen zu befreien, darin beſteht die Arbeit des Hüttenmannes; den Vorgang, durch welchen es geſchieht, nennt man Hütten­ prozeß. Er nimmt folgenden Verlauf: Die Erze werden zunächſt in Poch- oder Walzwerken zu Staub zerkleinert und vielfach auch gewaſchen, damit der leichte erdige Schlamm abfließe und das Erz reiner zurückbleibe. Der ſo gewonnene und geläuterte Erzſtaub wird alsdann geröſtet. Dies geſchieht in großen Öfen, gewaltigen Backöfen nicht ganz unähnlich, in denen unter beſtändigem Rühren ſeitens der Hüttenleute Schwefel uud Arſenik als ſchwefelige und arſenige Säure, ſowie als Staub — Giftmehl oder Flugſtaub genannt — entweichen. Schlagen ſich dieſe ſcharfen Säuren und dieſer Staub nieder, ehe ſie ſich mit großen Mengen reiner Luft verbunden haben, wie es wohl bei trübem und regneriſchem Wetter geſchieht, wo der Rauch bekanntlich fällt, ſo werden die in der Gegend wachſenden Pflanzen krank und ſterben oft ganz ab; und die Tiere, welch derartige Pflanzen freſſen, werden nicht ſelten dadurch vergiftet.

Seit langer Zeit war es daher das Beſtreben unſerer Hüttenbeamten, dem Hüttenrauche möglichſt viel von ſeinen ſchädlichen Eigenſchaften zu nehmen. Schon längſt fängt man den giftigen Flugſtaub auf, um ihn zu gewinnbringenden Stoffen weiter zu verarbeiten. Auch die ſchwefelige Säure wird in großen Kanälen und Kammern, deren Wände aus Bleiplatten beſtehen, zuſammen­ gehalten, dann fortgeleitet und auf chemiſchem Wege in Schwefelſäure verwandelt. Doch haben alle getroffenen Einrichtungen bis jetzt noch nicht dahin geführt, die ſchädlichen Dämpfe ganz zu bannen und nutzbar zu machen. Ein kleiner Teil derſelben entweicht noch immer und thut den Feldfrüchten und dem Viehfutter nach wie vor großen Schaden.

Die Regierung des Landes hat im Laufe der Zeit ſchon ſehr große Summen zur Vergütung der durch den Hüttenrauch angerichteten Schäden gezahlt; nebenbei aber blieb ſie ununterbrochen beſtrebt, die Beläſtigungen der Landwirtſchaft durch die flüchtigen giftigen Stoffe auf das geringſte Maß zurückzuführen. Und eben dieſes Streben iſt der Beweggrund zur Errichtung eines gewaltigen Bauwerkes geweſen, nämlich des größten Schornſteines der Welt. Durch dieſelbe ſoll es möglich werden, die ſchädlichen Gaſe in ſo hohe Luftſchichten zu führen und dort eine derartige Verteilung derſelben zu erzielen, daß eine beläſtigende Wirkung auf das Pflanzen- und Tierleben ausgeſchloſſen iſt.

Während das Dorf Halsbrücke mit ſeinen Schmelzhütten zumeiſt im tief eingeſchnittenen Thale der Mulde liegt, erhebt ſich das genannte großartige Bau­ werk auf einem nördlich davon befindlichen 366 m hohen Hügel. Majeſtätiſch überſchaut es weite Strecken unſeres Vaterlandes und übertrifft mit ſeiner Höhe von 140 m nicht nur alle Schornſteine der Welt, ſondern unter anderem auch den Turm der Stephanskirche in Wien. Steht der Beſchauer auf dem Land­ rücken zwiſchen Freiberg und Halsbrücke, und ſieht er die Schatten der Wolken an dem prächtigen, ſchlanken Schornſteine auf- und abgleiten, ſo ſtaunt er darüber,

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daß Menſchen es wagten, ein ſo zierliches Gemäuer in die Lüfte zu bauen. Wie unſcheinbar ſtehen dagegen die zweiſtöckigen Häuſer der Umgegend da, wie niedrig, faſt plump, erſcheint der 72 m hohe Petersturm der Stadt Freiberg – Zwerge neben einem Rieſen! Aber erſt in nächſter Nähe, an ſeinem Sockel ſtehend, erkennt man die ganze Mächtigkeit des gewaltigen Schlotes. Seine Grundfläche, ein Geviert bildend, umfaßt 144 qm, alſo mehr als vielleicht mancher Tanz­ ſaal. Die Seiten des Sockels ſind 10 m lang. Beim Emporblicken nach der höchſten Höhe des Bauwerkes können ſich die meiſten Beſchauer des Gefühls von Schwindel nicht erwehren, und ſelten wird einer derſelben glauben wollen, daß die obere lichte Weite noch 2,5 m, der Durchmeſſer 3 m beträgt.

Die große Eſſe iſt durchweg aus maſſiven Thonſteinen, als dem beſten Bauſtoffe, welcher zu dieſem Zwecke zu finden war, hergeſtellt. Die Grube „Ilſe“ bei Senftenberg lieferte dieſelben, und zwar waren 4140000 kg davon erforderlich. Zur Bereitung des Mörtels wurden 170000 kg böhmiſcher Kalk, 1030000 kg Elbſand und 60000 kg Cement gebraucht. Das Gewicht des Baumaterials betrug insgeſamt 5400 000 kg. Es würden mithin neun Eiſen­ bahnzüge zu je 60 Wagen dazu gehören, um dieſe Maſſen fortzuſchaffen.

Um das Beſteigen des Schornſteines während des Baues und ſpäter zu er­ möglichen, wurden außen und innen Steigeiſen eingemauert. Die äußeren, welche auch für ſpätere Unterſuchungen dienen ſollen, wurden außerdem mit Schutzbügeln verſehen, welche den Aufſteigenden vor dem Abſturze rücklings ſchützen und ihm bei Ruhepauſen zur Rückenſtütze dienen. Zu beiden Seiten dieſer Vorrich­ tung führt ein 10mm ſtarker Kupferdraht bis an den Eſſenkopf hinauf und abwärts in die Erde, um das Bauwerk vor der Beſchädigung durch Blitz zu bewahren. Damit der Schornſtein nicht aufreißen kann, wird er von ſtarken eiſernen Ringen umgeben, welche, unten 5,5 m voneinander entfernt, nach oben immer näher bei einander liegen, ſo daß ihre Entfernung zuletzt nur noch 2 m beträgt.

Der Bau wurde nach dem von der Bauverwaltung der Schmelzhütten aufgeſtellten Plane durch das Specialgeſchäft für Fabrikſchornſteinbauten von H. R. Heinicke in Chemnitz am 22. September 1888 begonnen und am 28. Oktober 1889 vollendet; er koſtete 130000 Mark, wovon 120200 Mark an den Baumeiſter ausgezahlt worden ſind. Noch im Herbſte des Jahres 1888 wurden in 52 Tagen 650 cbm Mauerwerk hergeſtellt, welches freilich nur den Grund und eine Hälfte des Sockels bildet. Während des Winters ruhte dann der Bau bis zum 10. April 1889, und auch dann konnte er nur langſam betrieben werden, weil die Anlieferung des Materials nicht raſch genug von ſtatten ging. Anfangs arbeiteten acht, ſpäter ſechs, zuletzt nur noch vier Maurer an der Höher­ führung der Eſſe, da der Platz eine Beteiligung weiterer Arbeitsleute verbot. Die Herſtellung erfolgte von innen in der Weiſe, daß die Maurer auf dem ziemlich ſtarken Mauerwerke ihren Standpunkt hatten. Die Zuführung der Materialien geſchah mittels Krans, welcher oben immer nachgezogen und an den inneren Steigeiſen befeſtigt ward. Eine um Fuße der Eſſe ſtehende Dampf­ maſchine, welche ſpäter auch die Maſchine zur Erzeugung elektriſchen Lichtes mit zu treiben hatte, lieferte die hebende Kraft.

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Nachdem man am 4. Mai 1889 mit der Herſtellung der eigentlichen Eſſen­ ſäule begonnen hatte, wurde im Juni und Juli das Werk durch Sturm und Regen häufig geſtört. Um nun auch ſchöne Abend- und Nachtſtunden zum Ar­ beiten benutzen zu können, ließ der Baumeiſter elektriſches Licht, oben vier Bogen­ lampen von je 400 Kerzen Leuchtkraft, in der Eſſenſäule und unten auf dem Bauplatze Glühlampen anbringen, und raſch und glücklich wurde nun das gewaltige Werk zu Ende geführt.

Um den rieſenhaften Schlot ſeinem Zwecke dienſtbar zu machen, war noch ein Kanal in Länge von 500 m von den Hüttenöfen bis an den Fuß desſelben anzulegen, wobei man auch die Mulde überbrücken mußte. Dieſer Kanal beſteht aus zwei Teilen. Der erſte Teil, in unmittelbarer Nähe der Hütten, wird von einer gewaltigen Bleikammer gebildet, deren Wände aus Bleiblechen im Geſamt­ gewicht von 103000 kg hergeſtellt ſind, und die zur Ablagerung von Flugſtaub­ maſſen dient; dieſer Teil überſetzt auch die Mulde und reicht bis an den jenſeitigen Uferabhang. Der andere Teil des Kanals, welcher am Ufer empor bis zur Eſſe reicht, beſteht aus Mauerwerk von 1250 cbm Inhalt. Die ganze Leitung wurde durch ſtändige Hüttenbauleute ausgeführt und erforderte einen Aufwand von 105000 Mk. Ende April 1890 wurde die vollſtändige Anlage in Betrieb geſetzt.

Zu den berg- und hüttenmänniſchen Sehenswürdigkeiten bei Freiberg iſt mit der Errichtung der Halsbrücker Eſſe eine neue getreten. Zuverſichtlich erhofft man von ihr die Beſeitigung der bisherigen großen Schäden für die Landwirt­ ſchaft und den Wegfall der bedeutenden Hüttenrauchentſchädigungen. Möge die Anlage dieſe Hoffnung erfüllen, damit Sachſens Fluren ſröhlich grünen und blühen auch da, wo der Bergmann der Silberader nachgräbt und der Hütten­ mann ſein heißes Werk vollbringt. — Glück auf! HermannHennig.