Kapitel 84. Die lange Schicht von Ehrenfriedersdorf.

Wer kennt nicht Johann Peter Hebels herrliche Erzählung „Unverhofftes Wiederſehen“! Ein Bergmann wird in einem tiefen Schachte verſchüttet. Nach Verlauf von fünſzig Jahren findet man ſeinen Leichnam wieder auf und zwar noch unverſehrt, als hätte erſt geſtern der Todesengel ſeine Seele abgerufen. Kein Menſch kennt den Toten. Da wankt, auf Krücken geſtützt, ein Mütterlein daher; mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz ſinkt die Alte auf die geliebte Leiche nieder; ſie hat ihn erkannt, ihren Bräutigam vor fünſzig Jahren! Das Volk ſieht mit Verwunderung die Wiedervereinigung dieſes ſeltenen Paares, davon das eine im Tode und in tiefer Gruft das jugendliche Ausſehen, das andere bei dem Verwelken und Veralten des Leibes die jugendliche Liebe treu und unverändert erhalten hat, und wie bei dieſer fünfzigjährigen goldnen Hochzeit der noch jugend­ liche Bräutigam ſtarr und kalt, die altersgraue Braut voll warmer Liebe iſt. Hebel hat bei ſeiner Erzählung willkürlich die Jahreszahl 1809 angenommen, während das Ereignis, welches der Dichter erzählt, im Dezember 1719 zu Falun ſich zutrug. Der verfallene Bergmann hieß Matthias Israelis, doch wird er ge­ wöhnlich in den Erzählungen einfach der Bergmann zu Falun genannt.

Aber auch unſer Sachſenland hat ein ähnliches Ereignis zu verzeichnen; das­ ſelbe iſt unter dem Namen „die lange Schicht von Ehrenfriedersdorf“ im ganzen Gebirge bekannt. Noch heute nennt ſich in der erwähnten Stadt eine Begräbnis­ brüderſchaft „lange Schicht“. Es iſt dies eine allgemeine Verbrüderung der daſigen Bergleute uud Bergmannsfreunde zu dem Zwecke, ſich gegenſeitig zur Religioſität und zu einem ſtillen Lebenswandel zu ermuntern, einander auch im Tode nicht zu verlaſſen und bei dem Ableben eines Mitgliedes nicht nur deſſen Hinterbliebenen zu den Beerdigungskoſten einen Beitrag zu leiſten, ſondern auch für ein würdiges Begräbnis durch unentgeltliche Gewährung des bergmänniſchen brüderſchaftlichen Leichenornats, der freiwilligen Träger aus ihrer Mitte und einer angemeſſenen Begleitung zur Ruheſtatt zu ſorgen.

Die beiden bekannteſten Chroniſten des Erzgebirges, Chriſtian Meltzer und Chriſtian Lehmann, erwähnen in ihren Schriften das Ehrenfriedersdorfer Er­ eignis. Letzterer berichtet: Ein altes Bergbuch zu Ehrenfriedersdorf, angefangen vom Jahre 1543, lautet alſo: „Kund und zu wiſſen ſei, daß nachverzeichnete Alten, mit Namen: Thomas Kandler, Andreas Reiter der Ältere zu Ehrenfrieders­ dorf und Simon Löſer zu Drebach vor mir, Valentin Feigen, Bergmeiſter und Thomas Langern, Geſchwornen im Bergamt, ausgeſagt, daß ihnen wohl wiſſend und in gutem Gedächtniß ſei, daß einer, mit Namen Oßwald Barthel, Bergmann, welcher allhier zu Ehrenfriedersdorf unten im Flecken in einem kleinen Häuslein gewohnet, da dieſer Zeit Hans Rößler innen iſt, im Jahre 1508 am Tage Katherina den 25. November im Sauberge verfallen, alſo daß ihm kein Menſch zu Rettung hat kommen können. Derſelbe Oßwald Barthel iſt heute Montags den 20. Sep­ tember im 1568. Jahr aus Brünlers Fundgrube im Sauberge, da man dieſelbe abgewältigt, ungefähr in der 7. Lachter unter dem tiefen Saubergsſtolln wieder­ gefunden worden. Iſt alſo 60 Jahr, 9 Wochen und 3 Tage im Sauberge unter

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Berg und Waſſer gelegen. Darauf iſt er den 26. September 1568 chriſtlicher Weiſe auf der Gewerken des Sauberger-Stollns Unkoſten zur Erde beſtätigt worden, mit einer ſchönen Leichenpredigt, die der Achtbare, Ehrwürdige und Wohl­ gelehrte Herr Mag. Georg Raudte, der Zeit unſer Pfarrer allhier, gethan und im Anfange der Predigt uns dieſes zu Gemüthe geführet, daß groß zu verwundern, daß er einem eine Leichenpredigt thun ſollte, welcher 35 Jahre eher, als er, der Pfarrer, geboren, geſtorben wäre. Es iſt aber gemeldeter Oßwald Barthel ſeelig, da in Gewältigen geräumt worden, erſtlich ganz gefunden worden, alſo, daß nichts an ihm gemangelt, ſondern der Leib, Kopf, Arme und Beine beiſammen geweſen, hat eine Berghaube, wie die Alten gepflogen, auf dem Haupt gehabt, und ſchwarze Haare halber Ellen lang, einen weißen Zippelpelz am Leibe, ein Paar Gruben­ hoſen, Schuhe an den Füßen, eine Unſchlitttaſche, einen Grubenzſcherger[39] mit Blei begoſſen umgürtet. Es ſind auch Schuhe, Hoſen und Pelz ganz geweſen. Und man wohl dem Anſehen nach vermeinet, ihn ganz aus dem Sauberge zu bringen, da er aber angegriffen, iſt er mitten entzwei gebrochen und alſo in zwei Stücken herausgebracht worden. Das zum Zeugniß, daß es eigentlich und gewiß geſchehen, iſt zur Beglaubigung alſobald ins Bergbuch einverleibt und männiglich, der es begehret, zur Nachricht eingeſchrieben worden. Den 20. September im 1568. Jahr.“

Die von Mag. Georg Randte gehaltene Leichenpredigt wurde 1588 in Frei­ berg bei Georg Hoffmann gedruckt, und ein Exemplar dieſer gewiß ſeltenen Rede befindet ſich heute noch im Pfarrarchive zu Ehrenfriedersdorf. Nachdem der Prediger über den Bibelſpruch: „Der Du läſſeſt die Menſchen ſterben und ſprichſt: Kommt wieder, Menſchenkinder“, ſich verbreitet hat, fährt er fort: „Da Moſes ſagt: Denn Tauſend Jahr ſind wie der Tag, der geſtern vergangen iſt. Will alſo den gottloſen Weltkindern einen Schweiß austreiben, die da denken, der Tod ſei über Tauſend Meilen, ſie ſind noch jung und ſtark, können noch viele Jahre leben, es habe lange noch keine Noth mit ihnen, und wenn ſie alſo ihr Datum auf dies zeitliche Leben ſetzen, denken, ſie haben noch viel Jahre für ſich, ſo iſt’s bei Gott als eins, Tauſend Jahr ſo vergangen ſind als der heutige Tag, der heutige Tag aber als Tauſend Jahr, denn bei Gott iſt keine Zeit. Omne tempus est nunc et nihil habemus de tempore nisi nunc. Wir haben von der Zeit nichts, denn das gegenwärtige Nu. Praeteritum, das Vergangene, das iſt nicht da, Futurum, das Zukünftige, iſt auch nicht da, und ſtehet derhalben unſer Leben auf dem nuhe, auf der gegenwärtigen Stunde oder Augenblicke, darin wir leben, gehen, ſtehen und ſterben, darum ſich niemand auf ſeine Jugend, Geſundheit und Stärke verlaſſen oder ſich noch viele Jahre zu leben die Rechnung machen ſoll, und ob einer gleich Tauſend Jahre lebte, ſo iſt doch ſolche lange Zeit vor Gott anders und mehr nicht, denn als hätte er nur einen Tag gelebt. Eine Fliege oder Mücke fleucht vorüber, der Wind, der fähret dahin, das Waſſer fleußt auch hinweg, und hat doch Alles ſeine Zeit, die man merken kann, es ſei ſo ſchnell es

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immer wolle, aber Tauſend Jahr und ein einiger Tag gegen einander zu ſetzen, will ſich gar nicht reimen.

Praeterit ista dies nescitur origo secundi An labor an requies, sic transit gloria mundi.

Der heutge Tag vorübergeht, Vom morgenden gar nichts verſteht Menſchlicher Witz, ob er uns Ruh Oder Arbeit werd’ bringen zu, All Ehr‘ und Reichthum dieſer Welt Iſt ungewiß, endlich dahinfällt.“

HermannLungwitz.



[39] Ein um Gürtel getragenes Grubenmeſfer, deſſen Griff durch Bleiarabesken ver- ziert war.