Kapitel 83. Der Greifenſtein und ſeine Sagen.

Wie mächtige Markſteine erheben ſich zwiſchen den alten Bergſtädten Geyer, Thum und Ehrenfriedersdorf auf einer Anhöhe die Felſen des Greifenſteins. Gern betrachtet jede der eben genannten Städte den Greifenſtein als ihr zugehörig, obwohl Chriſtian Lehmann in ſeinem „Hiſtoriſchen Schauplatz“ ſchon vor zwei­ hundert Jahren ausdrücklich ſagt, daß die Felſen zur Ehrenfriedersdorfer Gerichts­ barkeit gehörten und der Freiwald, in dem der Greifenſtein liegt, ſeit Menſchen­ gedenken im Ehrenfriedersdorfer Gebiete zu ſuchen ſei.

Jäh treten die Felſen aus dem Boden hervor, und gar ſeltſam ſind ihre Ge­ bilde. Da ruht Block auf Block, als hätten Cyklopen die Steine aufgetürmt. Es iſt Granit, der bei ſeinem Durchbruche Teile des Glimmerſchiefers losgeriſſen und in ſeine Maſſe eingeſchloſſen hat. Die Verwitterung trat ein; durch die Zer­ ſetzung wurde das Losbrechen des Glimmerſchiefers herbeigeführt, und der Granit

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löſte ſich in plattenartige Bänke auf, ein äußerſt ſeltenes Vorkommnis, das den Beſuch vieler Geologen veranlaßt.

Aus der Ferne geſehen, gleichen die ſieben Felſen den Trümmern eines Rieſenſchloſſes. Kein Wunder, daß die im Volke überall vorhandene Neigung zur Mythenbildung die Steine, wie der Epheu die Burgruine, mit einem bunten Kranze von Sagen umſponnen hat. In dieſen Sagen iſt viel von einer Ritter­ burg die Rede. Iſt dies Singen und Sagen bloß der Romantik entſproſſen, oder hat es einen hiſtoriſchen Hintergrund? Nach Herzog im Archiv für ſächſiſche Geſchichte gab es eine Burg „Gryfenſtein“, und es wird dieſelbe als markgräf­ liches Lehen der Dynaſten von Waldenburg urkundlich im Jahre 1373 erwähnt. Der Herausgeber des Hiſtoriſchen Schauplatzes hat den Greifenſtein am 7. Auguſt 1683 beſtiegen. Er giebt über ſeine Beobachtungen einen ausführlichen Bericht, findet Reſte von altem Gemäuer, Steine, an denen noch Kalk klebt, Eiſenwerk, Pfitzſchepfeile, kurz allerlei Spuren einer menſchlichen Wohnung. Ja, man will ſo­ gar den Zerſtörer der Burg und das Jahr der Zerſtörung (nämlich 1397) wiſſen. P. J. Rehtmeyer, welcher die alte Büntingſche Chronik von Braunſchweig und Lüneburg neu herausgegeben hat, ſagt: „Anno 1397 zog Herzog Otto der Jüngere, regierender Fürſt im Lande Göttingen und an der Leine, mit Hilfe etlicher Thüringer über die Weſer und vor die Hindenburg; die ward hart belagert und eingenommen und wurden daſelbſt vierundvierzig Straßenräuber befunden und aufgehänget. Das Schloß ward deſoliert und zerriſſen. Alſo hat man auch auf dem Greifſtein gethan, und damit hat er den Schnapphähnen und Straßen­ räubern ein großes Schrecken eingejaget.“

Haben die Schnapphähne auf unſerem Greifenſtein gehauſt? Nach einem alten Ortsverzeichnis in der Braunſchweiger Bibliothek wäre die Hindenburg in der Nähe des Harzes zu ſuchen; hier muß auch der nur beiläufig erwähnte Greifenſtein gelegen haben. Hätte Herzog Otto der Jüngere einen ſo weiten Kriegszug bis zu uns herauf in das Meißener Land unternommen, ſo hätte dies auf alle Fälle der Chroniſt erwähnt. Wie ſteht es nun mit Chriſtian Lehmanns Wahrnehmungen? Der alte Verfaſſer des Hiſtoriſchen Schauplatzes beobachtet gut, wie unter anderm auch aus den beigefügten Zeichnungen des Greifenſteins zu erſehen iſt. Das Gemäuer, welches er vorgefunden hat, kann jedoch in alten Zeiten von Bergleuten angelegt worden ſein; denn ſicher iſt es, daß auf dem Greifenſtein ſchon Bergbau getrieben wurde, noch ehe man das Schießpulver als Sprengmittel anwandte. Es bleibt uns nur noch Herzogs Angabe übrig. Die Dynaſten aus dem ſchon längſt erloſchenen Hauſe Waldenburg, welche auf Wolken­ ſtein ſeßhaft waren, haben mit der Gründung der drei Bergſtädte viel zu ſchaffen gehabt. Doch genügt Herzogs kurze Notiz noch nicht für den endgültigen Beweis, daß mit der Burg „Gryfenſtein“ auch unſer Greifenſtein gemeint ſei.

Verlaſſen wir das Gebiet der Geſchichte, und ſteigen wir die Stufen hinauf, auf den einen Felſen; welch überraſchender Anblick bietet ſich dem ſtaunenden Auge dar! Wir ſehen ſüdwärts den ganzen Kamm des Erzgebirges mit den wichtigſten Höhepunkten, als Fichtel- und Keilberg, Scheibenberg, Auersberg, Pöhl­ berg, Bärenſtein, Haßberg u. ſ. w. Die Städte Annaberg, Scheibenberg, Schlettau

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und Thum liegen ganz in der Nähe und gewähren ein reizendes Bild. Mit be­ waffnetem Auge ſieht man das Schloß Frauenſtein, die Heinzebank, die Brüder­ höhe mit Eiſenturm, den Marienberger Turm, die Kirche von Sayda, Öderan, Schloß Auguſtusburg mit Schellenberg, Schloß Sachſenburg, die Türme von Oſchatz, im Norden den Rochlitzer Berg und den Collmberg bei Oſchatz. Weiter weſtlich liegen zunächſt die beiden Städte Hohenſtein und Ernſtthal vor uns; über die ſogenannte „Langenberger Höhe“ hinweg eröffnet ſich uns eine neue Ausſicht nach der Gegend von Crimmitſchau, die ſich in nördlicher Richtung bis zum Peters­ berg bei Halle erſtreckt.

Das Kreuz auf dem gegenüberliegenden Felſen wurde von einem Arbeiter der Solbrigſchen Kammgarnſpinnerei in Harthau zur Erinnerung an den im heißen Kampfe fürs Vaterland im deutſch-franzöſiſchen Kriege am 2. November 1870 gefallenen Sohn des damaligen Spinnereibeſitzers, Oskar Solbrig, er­ richtet.

Am Fuße der Granitfelſen befinden ſich Steinbrüche, in denen der ſehr harte Stein zu Treppenſtufen, Trottoirplatten u. dergl. verarbeitet wird. Auch werden in der Nähe des Greifenſteines ſehr ſchöne Apatitkryſtalle, ſowie Turmaline und Topaſe gefunden, ebenſo auch der ſogenannte Veilchenſtein, ein von einer Alge (Byssus Jolizhus) überzogener Stein, der, wenn er angefeuchtet wird, einen veilchenartigen Wohlgeruch entwickelt.

Laſſen wir nun einige der ſchönſten Greifenſteinſagen folgen.

Die Berggeiſter des Greifenſteins beſchenken einen Wandersmann.

Es zog einſt aus den Ebenen von Sachſen ein Wandersmann ins Erzgebirge, um von da hinabzuſteigen in die geſegneten Auen von Böhmen. Unkundig des Gebirges, verlor er den Heerweg und betrat, nicht wiſſend, wohin er geraten möchte, einen ſtark befahrenen Kohlenweg, der nach einer Meilerſtätte des Freiwaldes führte. Beim blaſſen Scheine des Mondes durchzog er den Wald; er durchſpähte ſorgſam jede Rodung und horchte leiſe atmend auf das Bellen der Hunde, welches die Abendluft aus der Ferne herübertrug. Als er den Tönen nachzog, trat ihm plötzlich eine kleine Geiſtergeſtalt entgegen und forderte ihn auf, ihr zu folgen. Ihr Weg ging nun über Stock und Stein und fand endlich an den Felſen des Greifenſteines ſein Ziel. Kaum waren ſie in eine daſelbſt befindliche Höhle eingetreten, als ſich auf einmal ein ungeheures Gewölbe dem ſtaunenden Wanderer öffnete. Seine Wände ſchienen von Silber, ſeine Tiſche von Gold zu ſein. Aus tauſend goldnen, mit Edelſteinen beſetzten Leuchtern, in denen die Strahlen der Lichter ſich unzählige Male brachen, ſtrömte ein überirdiſcher Glanz über das ganze Gewölbe. An einer langen, köſtlich beſetzten Tafel ſaßen ehrwürdige Männer, die ſich an den aufgetragenen Speiſen ſättigten. Ein Diener lud den Fremdling ein, ſich zu ſetzen, uud ein anderer brachte ihm ſchon, während jener noch ſprach, Speiſen von der Tafel. Sowie der Wanderer davon genoß, ward er zuſehends erquickt und war fröhlich und guten Mutes. Die ehrwürdigen Berggeiſter aber freuten ſich ſichtlich über ihn und befahlen den Dienern, ihm den Reiſeſack zu füllen, den er bei ſich hatte. Mit herzlichem Danke ſchied er darauf von ſeinen

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Wirten. Als er aber nach einer ungeduldig durchwachten Nacht bei den erſten Strahlen der Morgenſonne den Sack aufthat, blitzten ihm die Goldgeſchirre und Edelſteine entgegen, deren Glanz ihn ſchon im Gewölbe in Erſtaunen geſetzt hatte. Zum Überfluß hatten ihn die gütigen Berggeiſter hart an die Straße gebracht, auf welcher er fröhlich gen Böhmen zog. Später ſiedelte er ſich ohnweit des Freiwaldes an und lebte in einem ruhigen Genuſſe ſeines Reichtums bis in ein ſpätes Alter. (Erzgebirgiſcher Bote, Zwickau 1809.)

Der Schatz auf dem Greifenſtein ſömmert ſich.

Eines Tages gingen zwei Mägde durch den Wald, in welchem der Greifen­ ſtein liegt; ſie hatten Streu geſammelt und trugen dieſelbe in ihren Tragkörben nach Hauſe. Als ſie nun auf einem ſchmalen Wege von der Höhe abwärts ſtiegen, ſahen ſie an den Zweigen der Fichten zu beiden Seiten Strohhalme hängen. Darüber wunderten ſie ſich; es ſah nämlich aus, als ob von einem mit Stroh beladenen Wagen durch die zum Teil über den Weg hängenden Zweige einzelne Halme losgeriſſen worden ſeien, wie man ſolches ja häufig an den mit Bäumen beſetzten Landſtraßen ſieht. Als die Mädchen aber nach Hauſe gekommen waren und ihre Streu ausgeſchüttet hatten, fanden ſie darunter eitel goldene Ketten. Der Schatz des Greifenſteins hatte ſich in Geſtalt von Strohhalmen an dieſem Tage geſommert und ſo waren einzelne Halme in die Körbe gefallen, wo ſie ſich in goldene Ketten verwandelt hatten.

Als der früher in Ehrenfriedersdorf angeſtellte Förſter Töpel eines Tages an dem Greifenſteine vorbeiritt, hingen ſo viel Gras- und Strohhalme von den nahen Bäumen herab, daß er kaum hindurchreiten konnte. Dabei blieben einige Halme auf ſeinem Hute liegen. Als er daheim ſeinen Hut abnahm, fand er,daß um denſelben eine goldene Kette gewunden war. Es ſoll noch ein Stück von dieſer Kette vorhanden ſein. (Moritz Spieß, Aberglaube u. ſ. w. 1862.)

Die Geyerſchen Stadtpfeifer werden vom Greifenſtein beſchenkt.

Einſt hatten die Geyerſchen Stadtpfeifer den Tanzenden im Thumer Rat­ hausſaale bis tief in die Nacht hinein aufgeſpielt. Nachdem der Reigen be­ endet war, traten ſie den Heimweg über den Greifenſtein an. Als ſie in die Nähe der alten Felſen kamen, ſchien es ihnen, als ob dieſelben in einem beſonderen Lichte erglänzten. Ein Spielmann machte den Vorſchlag, zu Ehren des Greifen­ ſteins eine muntere Weiſe zu blaſen. Wie geſagt, ſo gethan. Beim Abſtieg nach Geyer ſahen die Stadtpfeifer beim Scheine des Mondes große Zinnſtufen am Wege liegen; ſie meinten, der letzte heftige Gewitterregen habe ſie ausgewaſchen. Ohne Säumen hoben ſie die Stufen auf und ſteckten ſie in ihren Ruckſack. Als die Frauen und die Kinder am andern Morgen die Ruckſäcke nach einem Wurſtzipfel oder ſonſt einer Gabe durchſuchten, wurden ſie die Stufen gewahr und brachten ſie dem Schmelzmeiſter. Der erkannte ſie als pures Silber und lohnte die Frauen reichlich. Nutzen ſoll aber die reiche Spende des Greifenſteins den Stadtpfeiſern nicht gebracht haben; es wird erzählt, es ſei alles wieder durch die Muſikantenkehle gefloſſen. HermannLungwitz.

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