Kapitel 82. Annaberg und die Induſtrie des oberen Erzgebirges.

Annaberg, die bedeutendſte Stadt des obern Erzgebirges, oberhalb der Sehma und unterhalb des ſargähnlichen, über die Hochebene gelagerten Pöhl­ berges, wird in wenig Jahren das Jubelfeſt ſeines 400jährigen Beſtehens feiern; es gehört demnach zu den jüngeren Städten unſeres lieben Vaterlandes, iſt auch

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nicht, wie der größere Teil ſeiner Schweſtern, von den Sorben gegründet, ſondern rein deutſchen Urſprunges.

Annaberg verdankt, gleich wie Freiberg, Schneeberg und Marienberg, ſeine Entſtehung dem Silberreichtume des Erzgebirges. Der Stadt gegenüber, am jenſeitigen Ufer der Sehma, liegt der Schreckenberg; und hier war es, wo im Jahre 1492 Silbererz entdeckt wurde. Die Sage erzählt darüber folgendes: Am Vorabende des Fronleichnamsfeſtes des Jahres 1492 ging der Bergmann Kaſpar Nietzold aus dem Orte Frohnau nach der nahen Sehma, um Fiſche für den folgenden Feſttag zu fangen. Um das Waſſer zu trüben, ſtörte er mit einem dicken Stocke im Fluſſe herum. Dabei lockerte er einen Teil des überhängenden Ufers; ein großer Erdklumpen fiel herab, und an der entblößten Stelle zeigte ſich ein Geſtein, das der kundige Bergmann ſofort für edles Erz erkannte. In Geyer, wo damals bereits der Bergbau blühte, wurde das Erz unterſucht, und es ergab ſich, daß es außerordentlich reich an Silber war. Nietzelt grub nun emſig weiter, und fand ſo viel Silbererz, daß er bald ein ſehr reicher Mann ward.

Natürlich gruben ſofort auch andere nach den unterirdiſchen Schätzen, und in kurzer Zeit wühlte und klopfte es in einem großen Umkreiſe. Aus dem ganzen Gebirge, ſogar auch aus ferneren Landesteilen, ſtrömten die Erzſucher herbei, und die Gegend ward dadurch ſo volkreich, daß man beſchloß, eine Stadt zu bauen. So entſtand der Plan zur Gründung der Stadt Annaberg. Am 21. September 1496 ward der Grundſtein gelegt, und ein Jahr ſpäter ſtand das erſte Haus fix und fertig da.

Anfangs führte der Ort den Namen „Neuſtadt am Schreckenberge“, ſpäter aber, im Jahre 1501, wurde dieſer Name durch kaiſerlichen Erlaß in Sankt Annaberg umgewandelt. Noch heute deuten im Wappen der Stadt zwei Bergleute, die das Bildnis der heiligen Anna, der Mutter der Jungfrau Maria, halten, auf den Urſprung dieſes Namens hin.

Der Silberreichtum der Bergwerke am Schrecken- und Schottenberge war ein unermeßlicher. Es wurde zuweilen ſo viel des edlen Metalles gefunden, daß es nicht in Geld umgeprägt und nur im Auslande verwertet werden konnte. Annaberg hatte zwar eine Münzſtätte, allein ſie reichte nicht hin, den Bergſegen zu bewältigen; mehrfach kam es vor, daß anſtatt mit Geld mit Silberkuchen bezahlt werden mußte. Die in Annaberg geſchlagenen Münzſtücke, die nach unſerem Gelde einen Wert von etwa 40 Pfennig hatten, führten nach dem Haupt­ fundorte des Silbers den Namen „Schreckenberger“ oder nach ihrem Gepräge „Engelsgroſchen“.

Im 16. Jahrhundert galt Annaberg für einen der reichſten Orte des Landes. Überall ging die Rede von dem Reichtume der Annaberger Bergherren, und im Volksmunde bezeichnete man ſchließlich mit dem Worte „Annaberger“ jeden wohlhabenden, behäbigen Mann.

„Biſt ein reicher Annaberger, Haſt den Sack voll Schreckenberger“

lautete ein Sprichwort jener Tage. Und in der That, die Annaberger Berg­ herren waren unbeſchreiblich reich. Viele machten von ihrem Reichtume einen

Anſicht von Annaberg und Buchholz mit dem Pöhlberg. Verlag von Herm. Graſer in Annaberg. Anſicht von Annaberg und Buchholz mit dem Pöhlberg. Verlag von Herm. Graſer in Annaberg.

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gar guten Gebrauch, und die Namen Chriſtoph Uttmann und Heinrich von Elterlein ſtehen noch heute in hohen Ehren. Vielfach verleitete aber auch der große Überfluß zu einer Üppigkeit und Verſchwendung, die geradezu unglaublich iſt. Bekannt nach dieſer Seite hin iſt der Bergherr Kaſpar Kirſchner. Der­ ſelbe gab Gaſtmähler, bei denen ſo viel gegeſſen und getrunken wurde, daß die Gäſte ihrer Glieder nicht mehr mächtig waren und heimgefahren werden mußten. Er badete, um ſeinen Appetit zu reizen, ſeine Füße in Malvaſier und ließ ſie mit Semmel trocken reiben. Freilich hat derſelbe Mann zuletzt ſein Brot an den Thüren der Kirchen erbetteln müſſen.

Der Silberreichtum in den Gruben der Annaberger Gegend erzeugte auch in den gewöhnlichen Bürgerkreiſen und unter den arbeitenden Bergleuten die Liebe zu Prunk und Wohlleben, wie man aus folgenden Verſen erkennt:

„Der Bergleute Weiſe gefällt mir ſo wohl, Sie trinken ſich alle Sonntage voll In Städten und in Dörfern. Sie trinken das Bier und den kühlen Wein, Sie thun miteinander brav luſtig ſein.“

Allein dieſes luſtige Leben nahm mit der Zeit ein Ende. Die Bergwerke waren erſchöpft, und während z.B. die Fundgrube „Himmliſch Heer“ von 1536 bis 1593 eine Ausbeute von 1800000 Mark geliefert hatte, konnte man in ſpäteren Jahrhunderten von dem Ertrage kaum die Koſten des Betriebes decken. Zuletzt gab man den Bergbau ganz auf, und heute ſind die Gruben verödet und verfallen.

Wie wichtig war es für Annaberg zur Zeit des Niederganges und des Ver­ falls der Silbergewinnung, und wie bedeutungsvoll iſt es für das heutige Anna­ berg und das ganze obere Erzgebirge geworden, daß ſich im Laufe der Zeit die Induſtrie dort einbürgerte, namentlich die Spitzen- und die Poſamenten­ macherei!

Die Spitzenerzeugung iſt von den beiden Gewerben das ältere. Urſprünglich war das Spitzenmachen eine ſehr ſchwierige Arbeit. Im Mittelalter wurden Spitzen nur genäht und geſtickt; ſie wurden namentlich für Kirchen und Meß- gewänder hergeſtellt und daher auch in der Hauptſache in den Nonnenklöſtern verfertigt. Später erfand man das Spitzenklöppeln. In Frankreich und den Niederlanden war ſolche Art der Erzeugung bereits im 15. Jahrhundert bekannt. Nach Sachſen iſt dieſe Kunſt im 16. Jahrhundert verpflanzt worden und zwar durch eine Brabanterin, die angeblich Um ihres Glaubens willen aus ihrem Vater­ lande geflohen war. Dieſe kunſtfertige Frau kam nach Annaberg und fand hier freundliche Aufnahme.

Barbara Uttmann, die Tochter des ſchon erwähnten Heinrich von Elterlein und Gemahlin des reichen Bergherrn Chriſtoph Uttmann in Annaberg, gewährte der armen Vertriebenen Obdach und Unterhalt, und dieſe bewies ihre Dankbarkeit dadurch, daß ſie ihre Wohlthäterin im Spitzenklöppeln unterrichtete. Barbara Uttmann erkannte die hohe Wichtigkeit dieſer Kunſt, und durch ihren perſönlichen Einfluß und ihre reichlichen Unterſtützungen breitete ſich dieſelbe gar bald in Annaberg und Umgegend in einer Weiſe aus, daß wir ihr wohl das Verdienſt zuſchreiben

Das Denkmal der Barbara Uttmann in Annaberg. Das Denkmal der Barbara Uttmann in Annaberg.

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müſſen, das Spitzenklöppeln in Sachſen eingeführt zu haben. Das Jahr 1561 wird gewöhnlich als das Gründungsjahr dieſes Induſtriezweiges genannt.

Das Werkzeug, mit dem die herrlichen Spitzen hervorgebracht werden, iſt ein ſehr einfaches. Es beſteht aus einem walzenförmigen Kiſſen, dem Klöppel­ ſacke, und einer großen Anzahl kurzer Holzpflöckchen, die infolge der Ähnlichkeit, welche ſie mit kleinen Trommelklöppeln haben, den Namen Klöppel führen. Auf dieſe Klöppel wird das Garn gewunden, das zur Erzeugung der Spitzen verwendet wird. Damit das Garn nicht durch die Finger der Klöpplerin beſchmutzt wird, iſt jeder Klöppel mit einer lockeren Hülſe verſehen, die ihn vollſtändig deckt. So viel Fäden das Spitzenmuſter erfordert, ſo viel Klöppel werden am Klöppelſacke an­ geknüpft, ſo viel hängen vou demſelben herab und müſſen von der Klöpplerin genau im Auge behalten werden. Zu feinen breiten Spitzen ſind oft 100 Klöppel erforderlich. Sehr wichtig beim Klöppeln iſt der Klöppelbrief. Dieſer enthält das durch Punkte bezeichnete Muſter, nach dem die Spitzen anzufertigen find. Der Klöppelbrief wird auf dem Kiſſen befeſtigt, und an jedem Punkte wird eine Nadel eingeſteckt. Nun beginnt die Arbeit. Die Klöpplerin ſchlingt nach einer beſtimmten Regel die an den Klöppeln befindlichen Fäden um die Nadeln, indem ſie die Klöppel ſelbſt hin- und herbewegt. In der richtigen und geſchickten Handhabung der Klöppel beſteht die ganze Kunſt; würde nur ein einziger von den 100 Fäden um eine falſche Nadel geſchlungen, ſo wäre das Muſter verdorben und die Arbeit nicht viel wert.

Zu der Bewegung der Klöppel gehört eine Handfertigkeit, die nur durch große Übung von jung auf erzielt werden kann; darum werden ſchon Kinder im frühen Lebensalter zum Klöppeln angehalten und in den zahlreichen Klöppelſchulen regelrecht in dieſer Kunſt unterrichtet.

Lange Zeit, namentlich als die Mode das Tragen von Spitzen begünſtigte bildete das Klöppeln einen Hauptnahrungszweig des oberen Erzgebirges. Nach und nach aber iſt die Einträglichkeit dieſer Beſchäftigung ſehr zurückgegangen, und heutzutage verdient eine fleißige Klöpplerin oſt nur 4 bis 5 Pfennige in der Stunde.

Ein Induſtriezweig, der neben dem Spitzenklöppeln einen nicht geringen Teil der Bewohner des obern Erzgebirges beſchäftigt, iſt die Poſamenten­ fabrikation. Sie iſt faſt ebenſo alt wie die Spitzenklöppelei und hat ſich hauptſächlich von der um Schottenberge, Annaberg gegenüber liegenden, im Jahre 1504 gegründeten Stadt Buchholz aus verbreitet, in der ſie auch jetzt noch ihren Mittelpunkt und Hauptſitz hat.

Von einigen wird die Einführung der Poſamentenmacherei ebenfalls ver­ triebenen Brabantern zugeſchrieben; andere nennen als Begründer derſelben den aus Dinkelsbühl in Bayern gegen Ende des 16. Jahrhunderts eingewanderten Poſamentierer Georg Einenkel. Die Poſamentenfabrikation iſt weſentlich viel­ ſeitiger als die Fabrikation von Spitzen. Alles, was Kleiderbeſatz und Garnitur heißt: Ornament, Knopf, Borte, Franſe, Quaſte, Schnur wird unter der Bezeich­ nung Poſamenten auf den Tauſenden von Poſamentenſtühlen, Mühlſtühlen und Chenillemaſchinen gewirkt oder als Handarbeit geſchlungen, gedreht und genäht. Auch dieſes Gewerbe beſchäftigt ſchon Kinder im zarten Alter, und nur dadurch,

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daß die ganze Familie bis zu den jüngſten Sproſſen herab mit arbeitet, läßt ſich bei den geringen Preiſen, die gezahlt werden, ein Verdienſt erzielen, der bei be­ ſcheidenen Anſprüchen zur Beſchaffung der nötigſten Lebensbedürfniſſe hinreicht.

Welche Maſſen von Spitzen und Poſamenten im obern Erzgebirge verfertigt werden, geht daraus hervor, daß Annaberg über 100, Buchholz über 30 Poſa­ menten- und Spitzenhandlungen aufzuweiſen hat, und daß in Annaberg über 600 und in Buchholz über 400 Poſamentierer wohnen. Ein großer Teil der gefer­ tigten Waren, jährlich für mehr als 5 Millionen, geht nach Nordamerika, weshalb die Vereinigten Staaten auch ein eigenes Konſulat in Annaberg errichtet haben.

Da der Handelsverkehr mit Amerika durch die hohen Zölle etwas beſchränkt worden iſt, ſo haben ſich neuerdings in Annaberg und Buchholz noch andere Erwerbszweige eingebürgert. In bedeutenden Kartonnagenfabriken fertigt man Kartons von den einfachſten Apothekerſchachteln bis zu den feinſten Bonbonnieren mit koſtbaren Stickereien und Gemälden, ſowie Holzkäſten von den billigſten Spar­ büchſen und Federkäſtchen bis zu den ſchönſten Schreib-, Cigarren- und Nähſchatullen. Die Prägeanſtalten liefern aus Gold- und Silberpapier Sargverzierungen, welche beſonders in Ungarn, Spanien und Südamerika beliebt ſind, und bereiten aus Silber- und Papierkanevas tauſenderlei Unterlagen zu Stickereien, von den Buch­ und Leſezeichen an bis zu Lampentellern und Schirmen, Papierlaternen, papiernen Soldaten, Chriſtbaumſchmuck u. dergl. Holzbildhauerwerkſtätten erzeugen kunſtvolle Möbelverzierungen und Geſimſe, und auf eigenartigen Stühlen werden Perlengewebe für Etuis und Portefeuilles, Seſſel, Kiſſen, Ofenſchirme u. ſ. w. als Erſatz für koſtſpielige Stickereien hergeſtellt.

Dieſe neue Induſtrie entwickelt ſich ſo raſch und kräftig, daß ſie einen Erſatz für das im Niedergang begriffene Spitzen- uud Poſamentengewerbe bietet. So iſt dafür geſorgt, daß Annaberg im Verein mit der Schweſterſtadt Buchholz unſerm obern Erzgebirge auch in Zukunft das bleiben wird, was es bisher war: das Herz, von dem alles Leben ausgeht, und nach dem alles Leben wieder zurück­ ſtrömt. MoritzBaron.