Kapitel 77. Eine Winterfahrt im Erzgebirge.

Nirgends kommt der Winter ſo zur Geltung wie in den Gebirgen. Ein großartiges Bild von der Macht und zugleich auch von der Schönheit des Winters bietet unſer Erzgebirge in ſeinem oberen Teile, und es iſt darum außerordentlich lohnend, dasſelbe auch mitten im Winter einmal aufzuſuchen.

Unter den acht verſchiedenen Linien, die ins Erzgebirge führen, iſt wohl die Linie Aue—Eibenſtock—Schöneck, eine der anziehendſten. Ich wählte ſie deshalb auch zu meiner Winterfahrt. Bereits als ich von dem mittleren Teile des Gebirges aus meine Reiſe antrat, war alles in blendendes Weiß ge­ hüllt, von dem das dunkle Grün der Fichtenwälder ſich deutlich abhob. Je weiter ich aufſtieg, deſto reizvoller, aber auch deſto wilder ward die Landſchaft.

Die Mulde, an deren Ufer ſich die Bahn bis faſt auf den Gebirgskamm bei Hammerbrück hinzieht, und die erſt unterhalb Aue durch Verbindung mit dem gleichſtarken Schwarzwaſſer zum eigentlichen Fluſſe wird, tritt in ihrem Oberlaufe als echtes, mutwilliges Gebirgskind auf. Polternd und ſchäumend ſtürmt ſie durch das tief eingeſchnittene Waldthal. Klar wie Kryſtall und durch einen grünlichen Schimmer verſchönt, drängen ſich die glitzernden Wellen durch das mit Granit­ blöcken überſäete Bett. Zahlreiche Eisſchollen treiben auf den Wellen abwärts und zerſplittern und zerreiben ſich an dem harten Geſtein. Sie nehmen aber trotzdem kein Ende; denn jede Nacht bringt wieder neue hervor.

Langſam keuchte das Dampfroß auf dem ſteil anſteigenden und von friſchem Schneefall ſchlüpfrig gewordenen Schienenwege aufwärts, und ich hatte Muße genug, um nach links und rechts Ausblicke thun zu können. Auf beiden Seiten zeigten ſich im tiefen Schnee zahlreiche Spuren des Wildes, das nachts, vom Durſte getrieben, aus den Wäldern ins Muldenthal herabgeſtiegen war oder, durch den Hunger geplagt, ſich der Wohnung der tierfreundlichen Bahnwärter genaht hatte. Anfangs entdeckte ich nur Haſenſpuren und nur ab und zu auch die Fährte eines Fuchſes oder eines Rehes. Später, hinter Eibenſtock, wo das

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wildreiche Wiltzſchhäuſer Forſtrevier beginnt, bemerkte ich auch häufig die Fährten des edlen Hirſches und erkannte, welche gewaltigen Anſtrengungen die armen Waldtiere gemacht hatten, um ihren Hunger mit Baumrinde, mit den Knoſpen der zitternden Eſpe und den Zweigſpitzen des Weißdorns zu ſtillen. Bei der Halteſtelle Wiltzſchhaus kann man am Waldeshange faſt jeden Morgen ein ſtarkes Rudel Rotwild in der Nähe irgend eines Futterplatzes ſtehen ſehen. Hier, wo ſich die ausgedehnteſten Waldungen Sachſens befinden, in denen der Hirſch von jeher heimiſch war, ſucht ihn der Menſch zwar vor dem Hunger zu ſchützen; der überaus hohe Schnee aber erſchwert dem Wilde nicht nur das Fortkommen, ſondern die über dem Schnee lagernde Eisrinde verletzt demſelben beim Durch­ treten vielfach auch die Läufte, ſo daß manches ſtattliche Stück Wild ſelbſt in den­ jenigen Wäldern zu Grunde geht, wo es nicht an Fütterung fehlt. An vielen Orten haben die ſonſt ſcheuen Tiere des Waldes alle Furcht verloren, namentlich in den einſamen Waldorten, wo zumeiſt ihre guten Bekannten, die Holzmacher, wohnen. Bei Rautenkranz konnte man die Fährten mehrerer ſtarken Hirſche vom Wagen aus ganz leicht weithin verfolgen und ſehen, wie die Tiere in der vorhergegangenen Nacht in das Dorf hineingetrollt waren und hier die Haus­ gärtchen geplündert hatten.

Von Rautenkranz und noch mehr von Jägersgrün ab, über Hammer­ brück und Schöneck hinauf, nahm die von ſchneeſchweren Wolken überzogene Landſchaft ein echt nordiſches Ausſehen an. Vom Sturm aufgewühlte und vom Froſt feſtgebannte Schneewellen zogen ſich, rieſige Furchen bildend, über die ver­ ſchneiten Waldblößen und Flächen hin, knapp überragt von den Schindeldächern der Gebäude. Manche der letzteren waren hinter dem zuſammengewehten Schnee vollſtändig verſteckt, und nur der aus den Eſſen aufſteigende Rauch, einige Ebereſchen oder Lärchen verrieten die unmittelbare Nähe menſchlicher Wohnungen. Faſt alle Häuſer waren von tief ausgegrabenen, ſtollenartigen Schneegängen um­ geben oder durch ſolche miteinander verbunden, in denen, wie aus den ab und zu auftauchenden Mützen und Kopftüchern zu bemerken war, die Nachbarn fleißig miteinander verkehrten. Die Bewohner dieſer außerordentlich rauhen Höhen ſind in derartigen Schneearbeiten bewandert; Schnee und Kälte ſind hier den größten Teil des Jahres hindurch vorherrſchend. In dem tieferliegenden Rautenkranz und Jägersgrün hat es ſeit mehreren Jahren ſelbſt im Juli und Auguſt leichte Fröſte gegeben.

Vor Schöneck nahm die eingeleiſige Eiſenbahn nach und nach die Form einer ſchmalen, tiefen Rinne an, die ſich wohl eine halbe Stunde lang in manneshohem Schnee hinzog; und dieſer Schnee blitzte und flimmerte jetzt in der Sonne, als ſollte es kein Frühjahr mehr geben und die Erde nie ein anderes Kleid tragen als ihren mit tauſend Diamanten beſetzten Winterpelz.

Die Station Schöneck, 750 Meter hoch, ſteckte bis an die Ohren im Schnee. Ein vollſtändiger Eiſenbahnzug und eine Menge Arbeiter waren be­ ſchäftigt, den Schnee ſo weit zu beſeitigen, daß ein leidlicher Verkehr auf dem Bahnhofe ſelbſt möglich wurde. Dicht hinter dem Stationsgebäude war ein Pferd im Schnee verſunken, und man bemühte ſich, dasſelbe wieder herauszu­

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ſchaufeln. Nach halbſtündigem Aufenthalte und nach einem kurzen, aber herr­ lichem Rundblick auf das ganze, ebenfalls tief im Schnee liegende Vogtland, das von Schöneck aus faſt vollſtändig zu überſehen iſt, trat ich die Rückreiſe an.

Mein Begleiter war jetzt ein Geiſtlicher, der in einem Orte bei Hammer­ brück ſchon tags vorher zu einer Haustaufe erwartet worden war, den aber auf dem Wege dahin der Schnee zur Umkehr gezwungen hatte. Jetzt verſuchte er, ſein Ziel mit Hilfe der Bahn zu erreichen. In der Station Hammerbrück

Eine Schlittenfahrt im Gebirge. Eine Schlittenfahrt im Gebirge.

wurde er denn auch von den Gevattersleuten freudig willkommen geheißen. Die Leute dort oben ſind an ſolche „kritiſche Lagen“ gewöhnt; als „gute Chriſten“ bleiben ſie dann 24 Stunden lang mutig im Hauſe des Täuflings beiſammen und laſſen ſich’s bei Speiſe und Trank wohl ſein.

Der Winter iſt übrigens vom Erzgebirger durchaus nicht ſo gefürchtet, wie der Niederländer oſt glaubt. Er glättet ihm die in der vorhergegangenen Regenzeit oft ganz unfahrbar gewordenen Wege, ermöglicht die Beförderung des Holzes in den unebenen Waldgegenden und verbindet ſomit mehr, als er trennt.

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Außerdem gewährt er ihm ein Vergnügen, das der Bewohner der in milderem Klima liegenden Ebene gar nicht oder doch nur in einer ſehr unvollkommenen Weiſe kennt — die Schlittenfahrt.

In den Häuſern bietet die Winterzeit das Bild echter Gemütlichkeit. Auf der breiten Holzbank am rieſigen Ofen, in dem knorrige Baumwurzeln und Stöcke im Feuer luſtig kniſtern, und der den ganzen Winter über nie völlig kalt wird, ſitzt ein Teil der Familie um den Großvater, der den Erzähler abgiebt; am Tiſche aber, geſchart um des Lichtes geſellige Flamme, wird fleißig geſchnitzt, geklöppelt oder ſonſtige Arbeit getrieben, während der Wind draußen mit den Schneeflocken ſpielt. Wer aber hinaus muß ins Freie, der nimmt den großen, langen Schafs­ pelz von der Wand, hüllt ſich bis über die Ohren hinein und ſpottet dann des Windes und der Kälte. Der Pelz iſt dem Ergebirger ein gar lieber Genoſſe; faſt das ganze Jahr hindurch legt er ihn nicht ganz beiſeite, oft bildet er ſogar noch ſein Pfingſtfeſtkleid. Darum trifft man auch im Munde des Volkes folgendes Verslein:

„Ein deutſcher Mann nach alter Art Trägt ſeinen Pelz bis Himmelfahrt; Und thut ihm da ein Glied noch weh, So trägt er ihn bis Bartholmä.“

Unter ſolchen Verhältniſſen wird die ziemlich acht Monate währende Winterszeit ohne Schwierigkeit überwunden. Ja der Winter wird vom Erz­ gebirger ſogar zu den Annehmlichkeiten des Jahres gezählt. Würden wir den echten Sohn des Gebirges fragen, ob er nicht lieber während des Winters in den Mauern der Großſtadt bei Konzert, Theater und anderen Luſtbarkeiten weilen wolle, er würde ſicher verächtlich den Kopf ſchütteln. G. V. Z.