Die ſächfiſch-bayriſche Staatseiſenbahn erreicht bei dem Bahnhofe Reuth an der reußifchen Grenze ihren höchſten Punkt, 552m über dem Spiegel der Oſtſee. Nicht weit davon liegt das Bauerndorf Stelzen, und in der Gemarkung desſelben, auf dem Höhenkamme, erhebt ſich weithin ſichtbar der Stelzenbaum, ein hochbejahrter Feldahorn von 5 Meter im Umfange. Am Fuße dieſes mäch tigen Baumes bietet ſich eine vielgerühmte, entzückende Rundſicht. Man vermag bis zum Auersberg bei Eibenſtock, bis zum Ochſenkopf im Fichtelgebirge, bis zum Frankenwalde und zu den Ausläufern des Thüringerwaldes zu ſchauen, während nach Norden und Nordoſten in rieſigen Wellen ſich das Vogtland ausbreitet.
Solch ein ausgezeichneter Höhenpunkt muß ſchon frühe eine Kultſtätte geweſen ſein. In der That führt derſelbe im Munde des Volkes den Namen „die Kappel“, und die Äcker im Umkreiſe heißen „die Kappelfelder“. In frühkatholiſcher Zeit war die dortige Kapelle ein Wallfahrtspunkt für die ganze Gegend. Zur Refor mationszeit ſcheint die Kultſtelle eingezogen worden zu ſein. Kein Mauerreſt, nur Sage und Flurname bewahrt die Erinnerung.
Der Stelzenbaum iſt viele hundert Jahre alt. Seine herrliche Krone, von weitem einem mächtigen Steinpilze vergleichbar, hat in den letzten Jahr zehnten von Stürmen ſo viel gelitten, daß das Profil des Baumes nicht mehr die volle ſchöne Rundung zeigt, die ihm vor 25 Jahren eigen war. [15]
Zur Erntezeit halten die Schnitter in ſeinem Schatten Raſt, und noch mancher hofft dort bei geſchloſſenen Augen wunderbare Dinge zu ſchauen und zu hören. Denn die Sage weiß viel Herrlichkeiten vom Stelzenbaume zu berichtete.
Zauberiſche Töne klingen nieder aus ſeinen Zweigen. Das Rauſchen ſeiner Blätter hört ſich an wie Äolsharfen, und wie die Vögel in ſeinem Gezweig ſingen, ſo ſchön ſingen ſie im ganzen Vogtlande nicht wieder. Es ſind ſeltſame, gold ſchimmernde Vögel. Des Baumes Schatten lindert Herzweh und Kümmernis. Wer zur rechten Zauberſtunde auf ſeinen Wurzeln in Schlaf verfällt, wird von beglückenden Träumen umfangen und ſteht gekräftigt und begeiſtert zu neuem Schaffen auf.
Von den vielen Sagen, die ſich wie Epheuranken um den merkwürdigen Baum winden, mögen nur zwei mitgeteilt ſein.
Die Huſſiten kamen auf ihren Raubzügen auch an das Dorf Stelzen. Sie hatten es auf Plünderung und auf Wegführung junger Männer abgeſehen, die ihnen als Führer, Träger und Fuhrknechte dienen ſollten. Bei der Verfolgung eines Jünglings, der ſich in den Wald flüchtete, gelangten ſie auf eine Waldwieſe zu einem alten Schäfer, der ſeine Herde weidete. Er ſollte ihnen anſagen, wo hin ſich der Flüchtling gewendet habe. Da er beteuerte, es nicht zu wiſſen, ſahen ſie ihn für einen Zauberer an, der ſeine Burſchengeſtalt in eine Greiſengeſtalt verwandelt habe, und bedrohten ſein Leben. Umſonſt ſchwur er, daß er unſchuldig
und gottesfürchtig ſei, und zum Zeichen, daß er die lautere Wahrheit ſpreche, wolle er ſeinen Schäferſtock in die Erde ſtecken, der in drei Tagen wurzeln und grünen werde. Die Unholde mochten es nicht glauben und erſchlugen den Alten.
Nach drei Tagen fing ſein Hirtenſtock an zu grünen. Bald hatte er Knoſ- pen und Zweiglein, und nach Jahren war er zum ſtattlichen Baume geworden, deſſen Blätter denjenigen aller Laubbäume der Umgebung unähnlich ſind. —
Eine andere Sage berichtet:
Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges, da Holks Scharen das obere Vogtland aus einem Garten in eine Einöde verwandelt hatten, lebte in Stelzen der Bauer Chriſtoph. Hab und Gut hatte auch er durch den Krieg verloren. In ſeiner Not ſaß er manchmal am Fuße des Stelzenbaumes, der ſeinen verwüſteten Acker beſchattete. Ermüdet war er eimnal eingeſchlafen. Da hatte er folgenden Traum:
Ein alter Schäfer ſtand bei ihm, zeigte mit ſeinem Stabe nach Bayern hin und raunte ihm die Worte zu: „Dein Glück findeſt du auf der Regensburger Brücke!“ Der Traum wiederholte ſich an der nämlichen Stelle noch zweimal. Chriſtoph that nun Brot in ſein Bündel und wanderte gen Regensburg.
Auf der alten Steinbrücke geht er von einem Donauufer zum andern, drei mal und viermal, ſuchend und ſpähend. Da redet ihn ein invalider, bettelnder Soldat an, welcher beim ſteinernen Brückenmännchen ſaß, das den Erbauer der Brücke darſtellen ſoll: „Alter Freund, Ihr geht nun ſchon ſiebenmal an mir vor über und achtet meiner Not nicht!“ Chriſtoph klagt, daß er ſelbſt nichts habe, aber er wolle gern ſeine geringe Barſchaft im Lederbeutel mit ihm teilen. Da heim habe er Wieſen und Felder. Aber kein Huf, keine Klaue, keine Feder ſei im Stalle und kein Körnlein in der Scheune. Die Kriegsfurie habe den Hof geleert und die Äcker verwüſtet. Der Invalide weiſt das Scherflein des Bauers mannes zurück und fragt, was er hier in Regensburg wolle, und warum er ſo in einem fort über die Brücke ſchreite. Chriſtoph ſeufzt, macht ſeinem gepreßten Herzen Luft und erzählt ſeinen Traum. Da ruft lebhaft der Kriegsmann: „Ei, höret, was mir geträumt hat! Im Vogtland draußen ſteht ein Blätterbaum einſam auf Bergeshöh. Darunter liegt ein Kaſten voll Gold vergraben. Aber Traum iſt Schaum! Wie ſoll ich den Baum finden?“
Chriſtoph horcht auf, ruft: „Behüt’ dich Gott!“ und kehrt zur Heimat zu rück. In Gottes Namen will er nach dem Schatze ſuchen. Die Wurzeln des Blätterbaumes ſtehen ja in ſeinem Grund und Boden. Mit Hacke und Schaufel geht er ans Werk und findet eine metallbeſchlagene Kiſte voll güldner und ſilbener Münzen. — Noch lange lebte Chriſtoph als der reichſte Mann im Dorfe. Er ver gaß nicht, Gott auf den Knieen zu danken. Auch den Invaliden auf der Regens burger Brücke vergaß er nicht; er brachte ihm einen Beutel voll Silber.
Die Nachkommen Chriſtophs lebten in ziemlichem Wohlſtand. Der letzte
Beſitzer der Blechkiſte in Stelzen hieß Hofmann. Sie iſt dann durch Erbſchaft nach
Langenbach bei Mühltroff gekommen.
[15] Im Jahre 1891 ſollte er durch die Axt fallen. Auf dieſen Umſtand bezieht ſich das Gedicht „Der Stelzenbaum im Frühjahre 1891“ auf Seite 291. Bunte Bilder aus dem Sachſenlande. I. 19