Kapitel 59. Ein Schatzgräber im niederen Erzgebirge.

Zur Geſchichte des Lugau-Ölsnitzer Kohlenreviers.

Einige Stunden ſüdweſtlich von Chemnitz breitet ſich ein Thalbecken aus, an deſſen Rande die gewerbfleißigen Städte Hohenſtein, Ernſtthal, Stollberg und etwas weſtlicher Lichtenſtein und Callnberg liegen. Die jetzt ſehr gelichteten Waldungen auf den angrenzenden Höhen reichten noch vor einem Menſchenalter als ſtattliche Forſte tief in den Thalkeſſel herab und umſchloſſen dicht und eng die damals noch ſehr kleinen und unanſehnlichen Ortſchaften Würſchnitz, Lugau, Ölsnitz und Gersdorf. Zwiſchen Würſchnitz und Ölsnitz war der hohe Wald durch die Strut (d. i. niedriges Gehölz) unterbrochen, in deren Bereich auch ein mit fahlen Sumpfgräſern und Heidekraut bewachſener Plan gehörte.

Auf dieſer Waldblöße trieb vor 50 Jahren ein Schatzgräber ſein Werk, emſig und geheimnisvoll. Freilich war er keiner von denen, die in abergläubi­ ſcher Befangenheit auf Irrlichter als auf bedeutungsvolle Zeichen achten, auch keiner von dem Schlage derer, die den Hexenglauben thörichter Mitmenſchen liſtig ausbeuten, ſondern ein rechtſchaffener Mann, der ſtatt der Wünſchelrute die Feder und den Zeichenſtift zu führen verſtand und nebſt Spaten, Hacke und Schaufel auch Schlegel und Eiſen, ſowie das Gezähe[12] handhabte.

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Unſer Schatzgräber war ein Bergbeamter aus Zwickau. Auf einer Wanderung in ſeinen Heimatsort Langenau bei Freiberg kehrte er bei Verwandten in Lichtenſtein ein. Hier wurde er eingeladen, mit nach dem nahen Ölsnitz zu gehen, wo ſein Onkel Geſchäfte zu beſorgen hatte. Gern war der Gaſt dazu bereit; hatte er doch von verſchiedenen Seiten gehört, daß man bei einem Straßen­ bau Ende der zwanziger Jahre zwiſchen Würſchnitz und Ölsnitz und ſpäter beim Tiefackern wiederholt Kohlen gefunden habe. Auch wußte er von Bohr- und Senkverſuchen einer Freiberger Bergbaugeſellſchaft und der Fürſtlich Schönburg­ ſchen Herrſchaft zum Zwecke der Kohlengewinnung, die freilich ohne Erfolg ge­ blieben ſein ſollten. Dieſe Verſuchsſtellen aus eigener Anſchauung kennen zu lernen, war dem Bergbeamten von großem Intereſſe. Er ließ ſich daher von ſeinem Verwandten in jene Gegend führen und von einem zufällig anweſenden Waldarbeiter die betreffenden Punkte zeigen. Von den früheren bergmänniſchen Arbeiten waren aber nur noch wenig Spuren ſichtbar, und ſchon wollten die beiden Männer das fragliche Gebiet verlaſſen, als der Fachmann bei einem tieferen Wegeeinſchnitt ſtehen blieb und die Schichtung des bloßgelegten Bodens genauer unterſuchte. Nach kurzem Verweilen rief er ſeinem überraſchten Begleiter zu: „Das iſt ja das echte Kohlengebirge!“ Die gemachte Wahrnehmung be­ ſchäftigte nun immerfort ſeine Gedanken.

Wochenlang ſchwebte er in Ungewißheit, ob er nicht lieber ſeine Stellung in Zwickau aufgeben und hier mit Teufung eines kleinen Schachtes ſein Glück verſuchen ſolle. Als ihm nun ſeine ihn ohnehin nicht befriedigende Stellung durch ein Vorkommnis noch mehr verleidet worden war und er und ſeine Frau in einer und derſelben Nacht ſonderbare Träume gehabt hatten von einem waldigen Arbeitsfelde in der Nähe turmloſer Orte, auf welchem ringsum große Schorn­ ſteine entſtanden und große Erntewagen beladen wurden, da hielt er ſein ferneres Schickſal für beſiegelt und entſchieden. Nach Aufgabe ſeines Zwickauer Amtes ſiedelte er in aller Stille ohne Familie, nur in Begleitung zweier zuverläſſiger Arbeiter, nach Ölsnitz über. Zunächſt ſchloß er mit dem Gutsbeſitzer Höſel da­ ſelbſt einen Vertrag ab, weil auf deſſen Grundſtück die Arbeiten beginnen ſollten. Auch bildete er eine kleine Geſellſchaft, zumeiſt aus Verwandten beſtehend, die das nötige Geld zu dem Unternehmen aufzubringen bereit war. Nach dieſen Abſchlüſſen erfolgte am 7. Sept. 1843 unter Gebet der erſte Spatenſtich.

Obwohl die Schachtanlage in ſehr beſcheidenem Umfange geplant und be­ gonnen worden war, blieben doch dem wackeren Manne bittere Erfahrungen nicht erſpart; er merkte täglich, daß aller Anfang ſchwer iſt. Nach einigen Tagen ſchon kam man im Erdinnern auf ungeheuere Waſſermaſſen, die faſt nicht zu bewältigen waren. Dazu ſtellte ſich auch die vom Bergmanne ſo gefürchtete Triebſandſchicht ein. Durch dieſe Umſtände und in Erinnerung an die früher mit ſo vielem Koſten­ aufwande und doch vergeblich betriebenen Bohr- und Teufungsverſuche wurden die Mitglieder der kleinen Geſellſchaft bald zaghaft und wollten in ihrem Klein­ mute die vereinbarten Zahlungen nicht mehr leiſten.

Von den täglich wachſenden Schwierigkeiten ließ ſich der brave Bergmann jedoch keineswegs entmutigen. Im feſten Vertrauen auf Gott, der ja alle ehr­

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liche Arbeit ſegnet, begann er nach wie vor in aller Frühe ſein Tagewerk und kehrte erſt in ſpäter Abendſtunde aus der Grube zurück. Als aber bei aller Aus­ dauer und trotz aller Mühe nach Wochen noch kein merklicher Fortſchritt der Ar­ beit zu verzeichnen war, entſchloß er ſich, einen zweiten Schacht und zwar in größerer Nähe des vermutlichen Ausſtriches der Kohle zu ſenken. Hierzu ſchien ihm der ſogenannte Sieberſche Garten, nahe der Niederwürſchnitzer Grenze, am geeignetſten. Mit der käuflichen Erwerbung des betreffenden Haus- und Feld­ grundſtückes war zugleich eine eigene Wohnung für die Familie gewonnen, die nun auch ſchleunigſt bezogen ward. Jetzt wurde zur Teufung auf dem erkauften Grund und Boden verſchritten. Für die beiden verſchiedenen Arbeitsſtellen reichte jedoch die einfache Kraft des Leiters nicht mehr aus, und es mußten ihn Frau und Tochter bei den Arbeiten über Tage, ſowie bei der Beſorgung notwendiger Geſchäftswege unterſtützen, gleichviel ob Sonnenglanz über den Fluren lag oder Wetter ſtürmten, ob Tag- oder Nachtzeit war. Von jetzt ab gab es für die ganze Familie viel Anſtrengung und Entbehrung, wenig Ruhe und Bequemlichkeit. Selten waren die Familienglieder zur Eſſenszeit am Tiſche beiſammen; ja es kam vor, daß die Mahlzeit gleich auf der Waldblöße bereitet und verzehrt wurde. Ihre harte Lage, in der ſie noch bitteren Hohn und Spott übelgeſinnter Leute zu ertragen hatten, verſchlimmerte ſich durch einen zeitig hereinbrechenden Winter. Oft erſtarrten den helfenden Frauen die Hände am Haſpel, und dem armen Kohlen­ ſucher froren nicht nur einmal die durchnäßten Kleider auf dem Leibe feſt, wenn er bei grimmiger Kälte aus der Grube kam.

Nach langer, langer Zeit war man endlich am Hohen Neujahrstage wieder eimnal in der Wohnung vereinigt, und zwar, um das Geburtsfeſt der Hausfrau und Mutter zu feiern. Zu einer rechten Feſtſtimmung wollte es aber unter den obwaltenden Verhältniſſen nicht kommen; niemand konnte ja ahnen, daß das Glück ſchon vor der Thür ſtand und nur noch zögerte, einzutreten. Bekümmerten Herzens ſuchte die Familie bald das Lager auf. Der Schlaf mochte ſie noch nicht lange ihrer Sorge entrückt haben, als in der dritten Morgenſtunde heftig am Hauſe gepocht wurde und laute Stimmen den Anbruch der Kohle meldeten. Dieſe frohe Botſchaft war eine gar große Geburtstagsüberraſchung und brachte trotz der Nachtzeit munteres Leben ins Haus. Sogleich eilte der beglückte Gruben­ beſitzer zu dem Schachte, um die erſten Kohlen in einem um den Hals befeſtigten Körbchen zu Tage zu fördern. Dies gelang ihm auch, obgleich er dabei faſt bis unter die Arme ins Waſſer treten mußte. Die freundliche Hausfrau war auch in kurzer Zeit zur Stelle und reichte den treuen Arbeitern einige mächtige Krüge Warmbier, das ſie in aller Eile bereitet hatte.

Nach dem Bekanntwerden des Kohlenfundes im Königlichen Oberbergamte zu Freiberg wurden dem „Schatzgräber“ als Anerkennung eine werwolle geognoſtiſche Karte und 200 Thaler mit einem ehrenden Schreiben überſandt. Im Frühjahre aber veranſtaltete der glückliche Grubenbeſitzer für ſeine Schachtleute nachträglich ein Feſt, an dem die ganze Gemeinde freudigen Anteil nahm. Nach Abſingung des Liedes: „Nun danket alle Gott“, feierte der Diakonus Kolbe aus Stollberg auf Grund des Textes: „Der Herr hat Großes an uns gethan“, in einer treff­

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lichen Feſtrede die Bedeutung des Ereigniſſes. Den Kindern wurde ein Schulfeſt bereitet, und die Erwachſenen vergnügten ſich beim Tanze bis ſpät in die Nacht hinein. Die noch lebenden Teilnehmer jenes erſten Bergfeſtes erinnern ſich noch gern an die fröhlichen Stunden.

So war am 7. Januar 1844 morgens 3 Uhr ein unermeßlicher Schatz, und zwar in der geringen Tiefe von 8 Metern aufgefunden worden. An ſeiner Hebung haben in den nachfolgenden 50 Jahren tauſend und abertauſend Hände gearbeitet, und noch viele Jahrzehnte werden vergehen, ehe er erſchöpft ſein wird. Die große Veränderung, die ſeitdem in den geſamten Verhältniſſen des Lugau­ Ölsnitzer Kohlengebiets eingetreten iſt, vermögen nur die recht zu würdigen, unter deren Augen die weite Landſchaft emporblühte. Die früher ſo armſeligen Dörfer mit den dürſtigen Strohhütten, zu denen oft weder Weg noch Steg führte, haben ſich zu ſchönen, großen Ortſchaften entwickelt und ſind heutzutage mit breiten Straßen und ſtattlichen Häuſerreihen verſehen. Die Einwohner zählen jetzt nach ebenſoviel Tauſenden, als es früher Hunderte waren, und immer noch ziehen aus den ärmeren Gebirgsgegenden Leute zu, um daſelbſt ein beſſeres Auskommen zu finden. Die dreizehn großen Werke des Reviers, die meiſten aus Zwillings­ ſchächten beſtehend, fördern in Tag- und Nachtſchichten Kohlenmengen zutage, deren Wert ſich auf viele Millionen beziffert.

Mit dem Bergbau ſind aber auch verſchiedene andere Induſtrien eingezogen. Man findet daſelbſt Sägewerke, große Holz- und Eiſenhandlungen, Maſchinenbau­ anſtalten, Hanf- und Drahtſeilereien, Kohlenſtaubmühlen u. dgl. Infolge reger Bauthätigkeit entſtanden viele Ziegeleien und Baugeſchäfte, und große Spinnereien brachten den weiblichen Arbeitskräften hinreichende Beſchäftigung. Kurz, ein Blick in das weite Thalbecken mit ſeinen zahlreichen Dampfſchloten und Schienenwegen zeigt, daß jetzt da reges Leben, Handel, Verkehr und Wohlſtand herrſchen, wo vor einem halben Jahrhundert nur Armſeligkeit und Dürftigkeit zu finden war.

Der Mann aber, durch deſſen Entdeckung die reichen Kohlenlager im Lugau­ Ölsnitzer Revier aufgeſchloſſen und ſolche gewaltige Veränderungen herbeigeführt wurden, hieß Karl Gottlob Wolf. Er wurde als Sohn des Oberſteigers Wolf am 7. Februar 1808 in Langenau bei Freiberg geboren. Nach vollendeter Schul- und praktiſcher Lehrzeit im Bergbau beſuchte er die Bergſchule zu Frei­ berg mit gutem Erfolg. Nach ſeinem Abgange von derſelben war er Zeichner an verſchiedenen Orten; ſo wirkte er z. B. als Zeichnenlehrer zwei Jahre lang an ſeiner ehemaligen Bildungsſtätte in Freiberg. Später kam er nach Zwickau und leitete hier verſchiedene Kohlenwerke, bis ſeine Überſiedelung im Sommer 1843 nach Niederwürſchnitz und ſpäter Ölsnitz erfolgte. Die Auffindung der Kohle brachte dem braven Bergmanne leider nicht die ſorgenfreie Exiſtenz, die er wohl verdient gehabt hätte. Vielmehr begann für ihn nun erſt recht eine Zeit ſchwerer Kämpfe und bitterer Erfahrungen. Mißgunſt und Neid nötigten ihm jahrelange koſtſpielige Prozeſſe auf, die ſein Unternehmen hemmten und ihn ſelbſt ſchwer ſchädigten. Als aber die Anfeindungen niedrig geſinnter Menſchen gar kein Ende nehmen wollten, verließ er im Jahre 1852 die heimatliche Erde und ſuchte über dem Weltmeere im fernen Weſten Heil und Frieden.

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Die Stätte ſeiner erſten Wirkſamkeit in Ölsnitz liegt heute verfallen und verödet. Achtlos ſchreitet der Wanderer an ihr vorüber, da weder ein ſchlichter Stein, noch irgend ein anderes Merkmal dieſes für das ganze Lugau-Ölsnitzer Kohlenrevier ſo denkwürdige Fleckchen Erde bezeichnet. Aber am 7. Januar 1894, als am 1. Sonntage nach Epiphanias – genau 50 Jahre nach der Ent­ deckung der Kohlenlager – fand in der Kirche zu Lugau ein Jubelfeſtgottesdienſt ſtatt. In der Feſtpredigt wurde durch Paſtor Dr. Eckardt vor der zahlreichen Feſtgemeinde das Gedächtnis des Mannes erneuert, der ein Werkzeug in der Hand des Höchſten war, um einer bisher armen Landſchaft eine reiche Segens­ quelle zu erſchließen.

Frieden und Ruhe hat der brave Bergmann nun gefunden, da ihn der oberſte Bergherr zur letzten Erdenſchicht gerufen. Möge ihm nach dieſer ſtatt des Schachtglöckleins der Engel fröhlicher Poſaunenchor erſchallen zu einem ewigen, ſeligen Glückauf!

Herm.Unger.



[12] Bergmänniſches Werkzeug.