Kapitel 53. Richard Hartmann und der ſächſiſche Maſchinenbau.

In fünfzehn Kiſten verpackt, langte die erſte Lokomotive aus England in Leipzig an und wurde, nachdem ſie montiert war, anfangs wie ein Wundertier für Geld gezeigt. „Komet“ hieß dieſe Maſchine; ihre Probefahrt fand am 28. März 1837 zwiſchen Leipzig und Poſthaufen auf der damals noch im Bau begriffenen Leipzig-Dresdner Eiſenbahn ſtatt. Die Lokomotive koſtete 1383 Pfund Sterling, das ſind 27 660 Mark.

Unter den weitſchauenden Männern, welche den erſten Bahnbau in Sachſen unter unglaublichen Schwierigkeiten zu ſtande brachten, gab es ſicher manchen Patrioten, der das Vertrauen hegte, das heimiſche Gewerbe könne auch noch ſo weit kommen, Lokomotiven zu bauen; Sachſen habe ja Eiſen, es habe auch Kohlen und vor allem einen tüchtigen Handwerkerſtand. Und der aus den Handwerkern hervorgegangene Maſchinenbauer Richard Hartmann in Chemnitz war es, der mit der erſten in ſeiner Werkſtatt gebauten Lokomotive „Glück auf“ am 7. Febr. 1848 die Probefahrt auf der Sächſiſch-Bayeriſchen Eiſenbahn zur allgemeinen Zu­ friedenheit ablegte und damit jenen im ſtillen gehegten Wunſch erfüllte. Aus Hartmanns Maſchinenbauanſtalt zu Chemnitz ſind aber bis Ende Juni 1892 im ganzen 1860 Lokomotiven hervorgegangen. —

Richard Hartmann erblickte am 8. November 1809 zu Barr im Elſaß das Licht der Welt. Sein Vater, Johannes Hartmann, war daſelbſt ein wackerer Weißgerber. Mit noch vier Geſchwiſtern verlebte Richard eine frohe Jugend, bis er nach Beendigung der Schulzeit bei dem Zeugſchmied Georg Dietz in Barr in die Lehre trat. Lehrjahre ſind keine Herrenjahre, das hat auch Hartmann er­ fahren; doch blieb ihm bis an ſein Lebensende die Frohnatur, die ihm alle Schwierigkeiten überwinden half. Mit neunzehn Jahren ſchnallte der Schmiede­ geſelle ſein Reiſebündel und ging auf die Wanderſchaft. Er lenkte ſeine Schritte nach Deutſchland (damals war das Elſaß noch franzöſiſch). Nachdem Hartmann vorübergehend in Mannheim, Neuſtadt a.d.H. und in Jena gearbeitet hatte, finden wir ihn im Monat Februar 1832 in Chemnitz.

Reich zog er nicht in die Stadt ein, die ſpäter ſeine zweite Heimat werden ſollte; denn ſein ganzes Vermögen beſtand in zwei Thalern, dem Erlös ſeiner verkauften ſilbernen Taſchenuhr. In der Maſchinenbauanſtalt von C. G. Hau­ bold sen. fand er Arbeit. Haubold iſt der Begründer des Chemnitzer Maſchinen­ baues; in ſeiner Fabrik lernte Hartmann den ihm bis jetzt unbekannten Mecha­ nismus der Maſchinen kennen und brachte es infolge ſeines Fleißes trotz ſeines jugendlichen Alters bald zum Accordmeiſter.

Der junge Accordmeiſter wollte gern auf eigenen Füßen ſtehen; dazu gehört jedoch Geld, und die Mittel Hartmanns waren gering. Da galt es zu ſparen; getreulich half ihm hierbei ſeine ſpätere Gattin, Bertha geborene Oppelt. Nach Handwerksbrauch gab Hartmann um 15. Mai 1837 in der Garküche ſeinen Mit­ geſellen den Abſchiedstrunk; denn er hatte am gleichen Tage das Bürgerrecht er­ worben und in demſelben Jahre eine eigene Werkſtatt in der Annaberger Straße in Chemnitz errichtet. Drei Arbeiter, mit dem Meiſter, waren in der

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Werkſtatt thätig. Der Sparpfennig, in 150 Dukaten beſtehend, war das Anfangs­ kapital, und als der Meiſter am 11. Oktober 1837 ſeine Braut, Bertha Oppelt, als Gattin heimführte, bildete eine einfache Stube mit Kammer das erſte Heim des jungen Paares.

Häufig genug kehrte die Sorge bei den Eheleuten ein; denn nur zu oſt war am Freitag die brennende Frage: „Woher nehmen wir morgen zum Lohntage das Geld, um die Arbeiter zu bezahlen?“ Dem Fleißigen guckt die Not wohl einmal ins Fenſter, aber ſie darf ihm nicht ins Haus, — ſo war es auch bei dem jungen Maſchinen­ bauer. Man ſah ſeine Em­ ſigkeit; dies erwarb ihm Vertrauen, und ſo wurde zum Auszahlen der Arbei­ ter auch immer Rat.

Richard Hartmann. Richard Hartmann.

Anfangs baute Hart­ mann Baumwollſpinn­ maſchinen; beſonders fand ſeine eigene Erfindung, die Kontinue (eine Vorſpinn­ vorrichtung für Streich­ garnkrempel), ſolche Aner­ kennung, daß die Zahl der Arbeiter bald auf 76 ſtieg und die bisherigen Räum­ lichkeiten nicht mehr genüg­ ten. Sämtliche Werkſtätten mußten infolgedeſſen in der Mitte des Jahres 1841 nach der Kloſtermühle über­ ſiedeln. Hier wurde Tag und Nacht gearbeitet, um die zahlreichen Beſtellungen auszuführen. An den Ruhetagen verkehrte Hartmann in kameradſchaftlichſter Weiſe mit ſeinen Arbeitern. So wie er Meiſter in der Werkſtatt war, ſo war er auch Meiſter im geſelligen Verkehr.

„Der Aufſchwung des Hartmannſchen Etabliſſements datiert vom 12. Juli 1841, vom Umzug nach der Kloſtermühle; denn von nun an nahm es von Jahr zu Jahr größere Dimenſionen an,“ ſagt ein bekannter Biograph des großen Mannes „aus eigener Kraft“. Am 8. September 1845 verlegte Hartmann ſeine Werkſtatt, da jetzt ſchon 350 Arbeiter beſchäftigt wurden, abermals; er errichtete eine größere Fabrik auf dem von ihm käuflich erworbenen Grundſtücke an der Leipziger Straße, wo ſich gegenwärtig die Sächſiſche Maſchinenfabrik be­ findet. Freilich war jene Fabrik im Vergleich mit der rieſigen Ausdehnung von heute recht klein.

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Da im Jahre 1848 infolge der politiſchen Wirren eine allgemeine Geſchäfts­ ſtockung entſtand, legte ſich Hartmann, allerdings nur vorübergehend, auf den Bau von Gewehren. Von Jahr zu Jahr erweiterten ſich die Fabriksanlagen. Als 1860 durch ein Schadenfeuer zwei Dritteile der Werkſtätten und Betriebs­ maſchinen zerſtört wurden, zeigte ſich Hartmann ganz in ſeiner Größe als Menſch und als Induſtrieller. Mit ſicherem Urteil und ſeltener Ausdauer ordnete er alles in kürzeſter Zeit, ſo daß der Betrieb nur ganz wenig unterbrochen blieb

Die Sächſiſche Maſchinenfabrik zu Chemnitz. Die Sächſiſche Maſchinenfabrik zu Chemnitz.

und ſchon nach ſechs Monaten voll wieder aufgenommen werden konnte. Kein einziger Arbeiter war entlaſſen worden.

Die Vorzüglichkeit der Maſchinen, welche aus Hartmanns Fabrik her­ vorgingen, verſchafften derſelben einen Weltruf. Auf den Ausſtellungen zu Dresden, Berlin, Leipzig, München, Paris und London wurden Hartmanns Maſchinen als muſtergiltig anerkannt; der Chef des Etabliſſements ward durch Verleihung von Orden und Titeln ausgezeichnet. Bei alledem bewahrte ſich Hartmann ſeinen beſcheidenen Sinn. Obwohl ſeinem Königshauſe mit un­ erſchütterlicher Treue ergeben, hielt er ſich doch vom politiſchen Leben fern; er hatte nur Zeit für die Fabrik, und ſeine Erholung ſuchte er in ſeiner Häuslichkeit.

Ein Maſchinenſaal der Sächſiſchen Maſchinenfabrik zu Chemnitz. Ein Maſchinenſaal der Sächſiſchen Maſchinenfabrik zu Chemnitz.

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Seinen Arbeitern war er ein treuer Ratgeber, vielen der älteren ein wahr­ hafter Freund. Jahrelang hat er unbemittelten Arbeitern während des Winters Brot gewährt, ohne daß dieſe wußten, wer der Geber war.

Ein hartes Krankenlager blieb dem ſeltenen, nur im Schaffen ſich wohl fühlenden Manne erſpart. Mitten in ſeiner Thätigkeit lähmte ein Gehirnſchlag am 14. Dezember 1878 Körper und Geiſt, und ohne das Bewußtſein wieder­ erlangt zu haben, verſchied er am 16. Dezember 1878 morgens 6 Uhr. Auf dem neuen Friedhofe in Chemnitz hat man ihn beſtattet; ein von den Seinen er­ richtetes Denkmal bezeichnet den Hügel, unter welchem der raſtlos thätige Mann ſeine ewige Ruhe gefunden hat. —

Im Jahre 1870 war die Fabrik an eine Aktiengeſellſchaft übergegangen. Die ſoliden Grundſätze treu bewahrend, haben die Leiter der „Sächſiſchen Maſchinenfabrik zu Chemnitz, vormals: Rich. Hartmann“ es verſtanden, nicht nur Hartmanns großartige Schöpfung zu erhalten, ſondern dieſelbe auch noch nach jeder Richtung hin zu erweitern und zu vervollkommnen.

Die Sächſiſche Maſchinenfabrik beſitzt für ihren Betrieb drei in Chemnitz gelegene eigene Grundſtücke mit einem Geſamtflächeninhalt von ungefähr 120 000 Quadratmetern, welche mit 83 Gebäuden und 14 hohen Schornſteinen bebaut ſind, ſowie ein erpachtetes Grundſtück mit Gießerei. 1889 und 1890 ſind in Borna und Fürth, nahe bei Chemnitz, etwa 725 000 Quadratmeter Areal er­ worben worden in der Abſicht, einzelne Hilfsbetriebszweige, welche auf den bis­ herigen Grundſtücken eine Vergrößerung nicht erfahren können (als Gießerei, Schmiede, Dampfhämmer, Dampfſägewerke u. dergl.) dahin zu verlegen. Das neue Etabliſſement hat Gleisanſchluß an die Chemnitz-Leipziger Eiſenbahn. Das Aktienkapital wurde 1889 um 750 000 M., nämlich auf 8250 000 M. erhöht, und es beſchäftigt das Werk zur Zeit ungefähr 250 Beamte und 4000 Arbeiter. In Betrieb ſind 23 Dampfkeſſel mit 2655 Quadratmeter Heizfläche und 21 Dampfmaſchinen, ſowie eine Turbine mit zuſammen 944 Pferdekräften. Der Wert der jährlich hergeſtellten Fabrikate, wovon in den letzten Jahren 70% für das Inland und 30% für das Ausland geliefert wurden, beträgt 10 Millionen Mark. Exportiert wurde hauptſächlich nach Rußland, Spanien und Portugal, Italien, England, Belgien und Holland, Frankreich, der Schweiz, Öſterreich, Schweden, Norwegen und Dänemark, nach der Türkei, nach Rumänien, Serbien und Bulgarien, ſowie überſeeiſch nach Japan, China, Mexiko, Argen­ tinien, Venezuela und Auſtralien. Vollſtändige Arſenaleinrichtungen für Geſchütz­ bearbeitung, namentlich für Herſtellung großer Schiffskanonen, für Herſtellung von Artilleriefahrzeugen, von Geſchoſſen und Patronen ſind geliefert worden nach Bukareſt (Rumänien), 'sGravenhage (Holland), Trubia und Sevilla (Spanien) Tokio und Oſaka (Japan), China u.ſ.w.

Der Geſamtabſatz bis Ende Juni 1892 betrug: 1860 Stück Lokomotiven (der ſächſiſche Staat beſaß für ſeine ſämtlichen Bahnen am Schluſſe des Jahres 1891 nur 946 Lokomotiven), 735 Stück Tender, 1360 Stück Dampfmaſchinen aller Syſteme und Größen, 1515 Stück Dampfkeſſel, 485 Stück Dampf- und Transmiſſionspumpen, 225 Stück Dampfhämmer, 195 Stück Laufkräne, 120 Stück

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Eis- und Kühlmaſchinen-Anlagen, 590 Stück Turbinen, 6700 Stück Werkzeug­ maſchinen, 6300 Stück Spinnmaſchinen und Selfaktors, 5100 Stück Krempeln, 710 Stück Wölfe, 440 Stück Tuch- und Garntrockenmaſchinen, 26000 Stück Web­ ſtühle, 13 200 Stück verſchiedene andere Maſchinen, ungefähr 9 500 000 Kilogr. Transmiſſionen im Geſamtwerte von 195 Millionen Mark.

Die Sächſiſche Maſchinenfabrik zu Chemnitz beſitzt eine Beamten- ſowie eine Arbeiter-Unterſtützungskaſſe, ferner eine Beamten-Krankenkaſſe und gehört der Allgemeinen Krankenkaſſe und Invaliden-Penſionskaſſe der Maſchinenfabriken und Gießereien der Stadt Chemnitz an. Außerdem ſind mehrere Anſtalten für das Wohl der Arbeiter gegründet worden, z. B. die Stiftung „Heim“, welche in einer Anzahl außerhalb der Stadt in Waldesnähe errichteten Arbeiterhäuſern beſteht und verheirateten Arbeitern und deren Familien geſunde und billige Wohnungen gewährt. Zur Zeit wird dieſe Stiftung von 78 Familien mit 390 Perſonen benutzt, welche in 40 Häuſern wohnen. Eine zweite gemein­ nützige Anſtalt iſt der am 1. Mai 1889 in Benutzung genommene Arbeiter­ Speiſeſaal, welcher mit den vorzüglichſten Einrichtungen, namentlich zum Auf­ wärmen der mitgebrachten Speiſen, verſehen iſt, und in welchem jeder Arbeiter gute und billige Speiſen und Getränke haben und während der Eßpauſen ver­ zehren kann. Der Speiſeſaal wird von der Arbeiterſchaft ſelbſt verwaltet, und die erzielten Überſchüſſe finden zum Wohle der Arbeiter Verwendung.

Hartmann iſt nicht mehr; aber ſeines Geiſtes Wehen ſpürt man noch heute in allem, was die von ihm begründete Anſtalt betrifft. Chemnitz würde einen nicht geringen Teil ſeines Ruhmes entbehren müſſen, wenn es keinen Richard gehabt hätte.

HermannLungwitz