Vorwort. Schnaubend durch brauſt das Dampfroß täglich wohl zehnmal den gebahnten Eiſenweg von Glauchau bis Wurzen an der weſtlichen Mulde hin, mächtige Reihen von Perſonen- und Güterzügen mit ſich führend. Die Reiſenden haben
Eile. Nur flüchtige Blicke werfen ſie auf die Naturſchönheiten des Muldenthales. Der Wanderer aber, der keine Eile hat, der des Lebens Sorgen und Mühen auf Tage von ſich ſchütteln möchte, wählt den oft ſchmalen und holperigen Weg, der bald links, bald rechts vom Fluſſe, bald über ſonnige Wieſen, bald im kühlen Waldſchatten über ſchwellendes Moos, bald am hochragenden Felſen vorüber führt und hier ein ſtilles Dorf, dort eine klappernde Mühle berührt. Im Walde nicken ihm die weißen, blauen und gelben Waldblumen zu, huſcht ihm ein ſcheues Eichhörnchen über den Weg, murmelt ein ſtürzendes Waldbächlein ihm ſeinen Gruß entgegen. Über ihm rauſchen die Eichen und Buchen und Birken, es ſchauen ihn die Tannen und Fichten ernſt an, es jubilieren die Vögelein und krächzen die Raben, und in den das Waldesdunkel durchbrechenden Strahlen ſpielen farbige Schmetterlinge.
Vor der ſtillen Dorfſchenke kann er an dem Tiſche unter ſchattendem Laub dache ſich den Schweiß von der Stirn trocknen und an einem kühlen Trunke ſich erlaben oder in der gaſtlichen Herberge der Stadt an einem reichlichen Mahle ſich letzen.
Wie weit wird bei ſolcher Wanderung im Sonnenſchein und Waldesduft die Bruſt, wie leicht das Herz, wie klar das Auge! Wie feurig rollt das im Stubendunſt ſäumig gewordene Blut durch die verſteiften Glieder, und wie hell ertönen die Dankespſalmen gegen den großen Meiſter, der hier „ſeine Tempel ſich aufgebaut!“
Hinter den Bergen aber, ſeitab vom lieblichen Muldenthale, wohnen auch Leute und giebt es auch Sinn- und Herzerſreuendes.
Am rechten Muldenufer erhebt ſich von Glauchau an ein Höhenzug, der, zum Teil dicht bewaldet, bis zur Chemnitz ſich hinzieht. Als Eckpfeiler liegen nahe am weſtlichen Ende der Hohenſteiner Berg, am ſüdlichen Abhange und um nördlichen die Langenberger Höhe mit herrlicher Ausſicht, in gleicher Weiſe am öſtlichen Ende ſüdlich der Schloßchemnitzberg und der Tauraſtein bei Burgſtädt, beide ins Chemnitzthal hinabſchauend. In der Mitte des Höhenzugs aber ragt im Rabenſteiner Walde der Totenſtein hervor, zu deſſen Fuße ſüdlich das große Dorf Grüna, nördlich aber das Dorf Pleiße und die jüngſte Stadt Sachſens, das gewerbfleißige Limbach, ſich hinziehen.
Außer durch ſeine herrliche Ausſicht nach Süd und Nord, welche ſeit einigen Jahren durch einen von dem Limbach-Rabenſteiner Erzgebirgsverein errichteten Ausſichtsturm, den Maria-Joſephaturm, erweitert wird, zeichnet ſich der Totenſtein noch durch eine Naturſchönheit aus. An ſeiner nördlichen Seite wächſt das ſonſt ſeltene Gold- oder Leuchtmoos, welches im Dunkeln mit phosphornem Glanze ſchimmert. Eine heidniſche Königstochter ſoll mit ihren Schätzen darin verzaubert ſein — ſo meldet die Sage. Weiter ſagt ſie nichts. Doch knüpft ſich an den Totenſtein noch eine andere Sage, die uns einführt in eine Zeit, in der er, vor nun mehr als 1000 Jahren, der Schauplatz der Kämpfe war, in denen Germanen und Sorben-Wenden, Chriſtentum und Heidentum um die Herrſchaft rungen.
Der Friedloſe.
Bei dem romantiſch gelegenen Schloſſe Rochsburg drängen, hüben und drüben eng aneinander gerückt, ſich die Felſen an die Ufer der Mulde heran, ſo daß der Fluß ſich zwiſchen ihnen kaum durchzwängen kann und, an manchen Stellen zum Stillſtand gebracht, trübe Untiefen bildet.
Am rechten Ufer ſtehen Gruppen mächtiger Tannen und Eichen, oft dicht am Waſſer; hie und da hat die Flut das Wurzelwerk unterwühlt, und die Baum rieſen haben ſich halben Wuchſes über den Waſſerſpiegel geneigt.
Dazu ſtemmen ſich mächtige Felsblöcke den Wellen entgegen und teilen dieſe in kleine Waſſerarme. Wer über den Fluß hinüber will, vermag wohl, geſtützt auf ſtarken Speer, von Block zu Block ſich hinüberzuſchwingen.
Lange bevor ein Stein auf dem andern ſich zur ſtolzen Burg auftürmte, ſtand auf dem linken Ufer eine Pfahlburg, ein aus ſtarken Baumſtämmen er richtetes Gebäu, deſſen Dachbalken zum Schutze gegen Sturm und Wetter mit ſchweren Felsſtücken belegt waren. Neben dieſem Gebäu ſind niedere Hürden für Weide- und Ackervieh zu ſehen, ſowie Wohnungen für die Dienſtmannen des Gaurichters Ottfried, der die Wacht zu halten hat gegen die feindlichen Sorben und unter den germaniſchen Stammesgenoſſen das Recht pflegt im Namen des Königs. In geraumem Umfange ſchließt ein Pfahlzaun, feſt in die Erde ge rammt und von ſtarken Fichtenzweigen durchflochten, als Schutzwehr gegen feind lichen Überfall dieſe Wohnplätze der vor kurzem eingewanderten Franken ein, und das Waſſer der Mulde iſt in tiefe Gräben gezogen, wo nicht ſteiler Fels ſchützt. Denn hier iſt nicht gut hauſen! Drüben im Steinthale Chamnizin wohnen die Sorben-Wenden, die Todfeinde der Germanen. Sie betrachten dieſe als Räuber und Eindringlinge.
Auf dem Pfahlbau iſt, um höheren als menſchlichen Schutz zu bieten, das Bild des heiligen Rochus aufgerichtet. Die Germanen ſind ja ſchon vor mehr als hundert Jahren dem Chriſtengotte dienſtbar geworden, als der große Karl die Widerſpenſtigen mit dem Schwerte ins Taufwaſſer trieb. Unter dem Pfahl bau wendet ſich der Fluß, und man kann von der Burg aus nicht den Waſſer lauf entlang ſehen.
Da hallt ein gellender Schrei aus dem Walde heraus, wie wenn ein Reh ſein Rickchen lockt. Vom linken Ufer her läßt ein zweiter ſich hören. Es iſt nicht der Wiederhall; denn zweimal iſt er kurz abgebrochen. Hinter dem Buſchwerk hat ſich ein Mann verborgen. Eine dicke Lederkappe deckt ſein Haupt, braune Locken quellen unter ihr hervor, und glänzend ſchwarze Rabenfedern ſchwanken rechts und links herab, ein Schmuck des freien Mannes. Lederkoller und gleiche Ge wandung decken Oberleib und Oberſchenkel, während die Beine vom Knie an nackt ſind. Um die Schultern hat er ein Wolfsfell geſchlungen, das unter dem Halſe von einem eiſernen Kettchen zuſammengehalten wird. In der Hand trägt er einen Speer von zwei Manneslängen und im Gürtel ein Steinbeil. Er ſchwingt ſich leicht, auf den Speer geſtützt, von Stein zu Stein und gelangt ſo ans andere Ufer.
Dort wartet ſeiner eine Jungfrau mit ängſtlicher Gebärde. Über ein weiches Wollengewand, wie es die Sorben weben — denn ſie ſind geſchickter als die Germanen – und wie es von Händlern trotz aller Feindſeligkeit Gewinnes wegen in den deutſchen Grenzgauen verkauft wird, legt ſich ein Mantel von Lämmer fellen, von einem Perlenbande zuſammengehalten, das die kunſtreichen Welſchen gegen hohen Preis liefern. Das lang herabwallende Haupthaar, das ein liebliches Antlitz umſäumt, wird von einem ſchwarzbeinernen Ringkamm begrenzt, ſo daß die hellblauen Augen frei dem Jünglinge entgegenſtrahlen.
So ſtehen die Germanenkinder in Kraft und Schönheit einander gegenüber.
„Hildigis,“ rief der Jüngling, der ſich vor dem Mädchen wie ein Löwe vor dem Lamme auf ein Knie niederbog, „Hildigis, was bringſt du mir für Kunde?“
„Schlimme, Jungraban!“ gab das Mädchen traurig zurück. „Sie haben dich friedlos gemacht. Mein Vater hätte dich gern geborgen; aber die Schöppen wollen die Satzungen heilig gehalten wiſſen. Wer einen Schwertgenoſſen im Trunk und Spiel zornblind niederſchlägt, wird friedlos gemacht.“
„Friedlos? — So ſoll ich verſtoßen ſein von jeder heimatlichen Schwelle, und jede Frevlerhand kann mich niederſtoßen wie einen Wolf, der in die Herde bricht? – Wie gern wollt’ ich mit der Wildgans nach Süden ziehen, aber kein Schwertgenoſſe darf mich neben ſich dulden! – Und dich ſoll ich nicht mehr ſehen, du Liebliche!“
„O, dein unſeliger Zorn!“ ſchluchzte Hildigis, „warum ſchlugſt du auch den Luitwolf!“
„Ein Bube iſt er! Nicht nur, daß er mir die Hälfte meiner Habe im falſchen Spiele abnahm und mich dann noch höhnte, nein, er rühmte ſich frech, dein Buhle zu ſein; da ſchlug ich ihn auf das Schandmaul, daß er blutend ins Gras ſtürzte. Das thut mir nicht leid. Iſt er tot?“
„Nein, und deswegen haben die Schöppen den Schiedſpruch gethan: Wenn du eine große That verrichteſt für das Volk oder für den Glauben, ſo ſoll der Unfrieden von dir genommen werden. Doch fliehe; denn wenn du hier gefangen wirſt, ſo ſchneidet man dir die Locken ab, und du wirſt ein Unfreier!“
In einem Fiſchnetze reichte ſie ihm Gerſtenbrot und Schinken und ein Füll horn mit Met zu einiger Letze auf den Weg, drückte ihn noch einmal an die Bruſt und verſchwand raſch im Gebüſch.
Jungraban ſchaute ihr voll Schmerz nach, ergriff dann raſch das Fiſchnetz und kehrte auf dem Blockwege wieder aufs rechte Ufer zurück. Von da ſah er nochmals nach der Pfahlburg. „Hildigis!“ Er ſtreckte die Arme verlangend über das Waſſer. Dann ſprach er in ſich hinein: „Ja, eine große That, eine große That!“
Damit ſchritt er in die Wildnis hinein.
II.
Im Miriquidi-Walde.
„Wohin, wohin, Jungraban?“
Es war ihm, als wenn die Raben ihm dieſe Frage zugekrächzt hätten.
Tiefe, tiefe Stille war um ihn. Wer weiß, wie lange er menſchlichen Laut nicht vernehmen ſollte!
„Wohin du willſt,“ antwortete er ſich ſelbſt, „überall hin, nur nicht, wohin du gern möchteſt, nicht zu Hildigis!“
Mächtige, bis an die Wolken reichende Tannen umſtanden ihn, und in ihren Wipfeln rauſchte dumpf der Abendwind. Aufwärts lenkte er ſeine Schritte, und bald war ihm der blaue Schimmer der Mulde entſchwunden. Durch das Waldesdunkel hinſchreitend, vernahm er das Toſen des Waſſerfalles. Lauter und lauter ließ dieſer ſich vernehmen. Das Wundern wurde mühſam. Er kletterte über verſtürzte Baumſtämme, ſtolperte über bemooſte Felsblöcke, verfing ſich in dichtem Geſtrüpp und gelangte endlich auf eine Fläche, welche breite Spuren zeigte, die er als Fußtritte des Bären erkannte, der ſich einen Weg zur Tränke gebahnt hatte. Dunkler und dunkler wurde es um ihn, und näher rückte ihm der Donner des Waſſerfalles. Mit kräftigem Rucke riß er verſchlungenes Geäſt von Erlenbüſchen auseinander und kam wieder ins Helle. Er ſtand vor der Brauſe.
Von turmhohen Felſen ſtürzte ein Waldbach in die Tiefe; von Block zu Block abſpringend, in tauſend Stäubchen zerſchlagen, umſäumten weiß ſchäumend ſeine Wellen Staffel um Staffel. Schaumringel umtanzten die Steine, fußhoch ſich auftürmend, um in kleinen Rieſeln dem nächſten Blocke zuzufließen. In die Tiefe gelangt, ſammelten ſich die Waſſer in einem Keſſel, oben kurze Wellen ſchlagend, unten aber regungslos feſtgehalten, bis ſie langſam den Abfluß zur Mulde fanden.
Hier wohnten die Waldmännlein und die Waſſernixen, die im Mondenſcheine auf den weißen Schaumkanten ſich wiegten und in toller Jagd von Block zu Block ſprangen. In dem Waſſerloche aber hauſte der Waſſermolch, der den verirrten Wanderer in die Tiefe riß, daß der Arme Sonne und Mond nimmer wieder zu ſchauen bekam. Jungraban ſchauderte. Auf der Kuppe angelangt, ſchwang er ſich über den Buch. Die Nacht war gekommen. Milde ſetzte er ſich unter das Geäſt einer Eiche, holte aus ſeinem Netze einige Biſſen hervor und ſog aus ſeinem Trinkhorn einige Schlucke Met, womit er die Nerven belebte und die Muskeln erfriſchte. — „Hildigis, deinen blauen Augen und deinen Roſen lippen ſei dieſer Trunk geweiht!“ —
Schläfrig lehnte er ſich an den mooſigen Stamm, und ſeine Augen ſchloſſen ſich. Wie lange er geſchlafen, wußte er nicht. Brechende und kniſternde Zweige machten ihn munter. Nicht weit von ihm ſtand ein rieſiger Bär, der mitſtaunendem Blicke den ſeltſamen Wanderer betrachtete. Jungraban ſprang auf und ergriff ſeinen Speer. Braun aber kam geſättigt von ſeinem Rundgang im Walde; er hatte keine Luſt, mit dem Fremdlinge anzubinden, und trottete tiefer in den
Wald hinein. In der Ferne erſcholl Wolfsgeheul. War’s ein Kampf zwiſchen Wölfen und Hirſchen oder Elen oder dem rieſigen Ur?
Schon glänzten die Gipfel der Tannen im Morgenſchimmer, als Jungraban an den Rand der Hochebene gelangte. In der Ferne ſah er das ſilberne Band des Steinbaches, durchſetzt mit mächtigen Felsblöcken, welche einſt auf den Berg höhen gelagert hatten und durch Waſſerfluten in das Thal herabgeſchwemmt worden waren. War hier etwa die Walſtatt, auf welcher einſt die Eisrieſen mit den Göttern des Landes rangen? Am grünen Geſtade erblickte Jungraban ſorbiſche Hütten, umgeſtürzten Bienenhäuſern gleich. Zu Haufen lagen ſie beiſammen, Hufeiſen bildend, ungleich den germaniſchen Blockhäuſern. Über den Thüren waren Eiſen von Roſſen als glückverheißende Zeichen angebracht. Um die Hütten lagen Fruchtfelder und Gärten; denn die Sorben waren ſeßhafte Leute und Ackerbauer. An den Zäunen hingen Geſpinſte; die Sorben verſtanden die Webe kunſt. Vor andern Hütten lagen Thongefäße, um an Sonne und Licht zu trocknen. Jungraban hatte von alledem ſchon geſehen und gehört; denn von Zeit zu Zeit waren ſorbiſche Händler auch in den Gau des heiligen Rochus gekommen und die germaniſchen Frauen hatten ihnen gern abgekauft.
Tiefe Stille herrſchte im Sorbendorfe. Auf einem ebenen Platze war ein Steinaltar mit dem Bilde des Bielebog, des Frühlingsgottes, errichtet. Auf dem ſelben ſtanden aus Weidenruten geflochtene Fruchtkörbe; Blumen und Kränze, ſchon welk geworden, lagen auf den Stufen. Die Bewohner hatten ihrem Gotte ein Feſt gefeiert, und ermüdet von Sang, Tanz und Mettrunk, ſchliefen ſie in den hellen Morgen hinein. Jungraban füllte ſein Netz mit Früchten; denn den Feind ſchädigen und ſich nützen durfte jeder ehrliche Mann — wie vielmehr ein Fried loſer, wie er. Bei ſchwindender Dämmerung hielt er es für rätlich, ſich der Höhe wieder zuzuwenden.
So wanderte der Friedloſe Tag für Tag im Miriquidi. Er hörte das Gekrächz der Geier und Raben über ſich, das Gurren der Holztauben, das Grunzen des Ebers und der Bache, die bei ihren Friſchlingen Wacht hielten an ſchat tiger Bucht, das Brummen des Bären, das Heulen des Wolfes; er ſah den endloſen Kampf der Waldtiere, die hier in unverkürzter Freiheit hauſten. Er hörte aber auch den ſüßen Schall der Waldvöglein, den Ruf des Kuckucks und die ſchmeichelnden Töne des Spottvogels. Um ihn ſummten die Hirſchkäfer, die am friſchen Laube der Eichen ſich erlabten, die Horniſſen und Waldbienen. Reiches Leben gab’s im Urwalde. Er grub Wurzeln, Paſtinak und wilde Zwiebeln aus, durchſtöberte die Höhlungen der Bäume nach Nußlagern der Eichhörnchen und liſtete den Bienen und Hummeln die Honigwaben ab. Er leerte die Neſter der Vögel von Eiern und lebte ſo Tag für Tag. Ihm war der Wald ein reiches Schatzhaus. Er beſchritt auch hie und da ein ſorbiſches Dorf und nahm unbe ſorgt, was ihm zu nutz ſein konnte. Gefährlich war freilich ein ſolcher Gang; denn die mißtrauiſchen Sorben würden ihn, wenn ſie ihn ertappt hätten, gewiß als fränkiſchen Spion an die nächſte Tanne geknüpft haben.
So rauh das Leben im Walde war, dem Sohne der Wildnis behagte es; und als ſein Füllhorn geleert war, trank er wohlgemut kühles Quellwaſſer.
Trübe ward ſein Sinn nur, wenn er ſeiner lieben Hildigis dachte und argwöhnte, daß der unholde Luitwolf ſie herzen könne. Klang ihm ſein linkes Ohr, ſo rief er: „Hildigis?“ und wenn der Klang erſtarb, fügte er freudig hinzu: „Sie gedenkt mein noch!“
III.
Czernebog.
Die Niederung herauf kamen zwei ſorbiſche Männer in Kriegertracht geritten.
Sie ſaßen auf kleinen Pferden mit langen Mähnen; ſpitze Lederkappen deckten das Haupt, auf dem Rücken war ein runder, mit Eleuhaut überzogener Schild befeſtigt. An den Seiten hingen Köcher, geſpickt mit ſcharfen Pfeilen, und der Bogen ſamt dem krummen Schwerte machte die Rüſtung voll. An den Füßen trugen ſie zugeſpitzte Holzſchuhe, deren hinteres Ende als Sporn für das Roß dienen mochte.
„Huſſa, Chuzi!“ rief der eine, „
„Ich war auf Ausflug im Frankenlande und bin den Lindenbach herauf bis zur Plißni geſtreift.“
„Und ich komme aus dem Lande Miſſin. Was kündeſt du Gutes?“
„Gutes? Beim Czernebog, wenig genug! Die Franken und Sachſen rüſten ſich, die Kinder unſers Volkes weiter und weiter nach Oſten zu drängen. Sind wir vor ihnen ſchon aus der Ebene gewichen, ſo werden ſie uns auch aus dem Miriquidi treiben. Czernebog! Er vermag nichts gegen den Gott der Franken. Haſt du beſſere Kunde, Hannuſch?“
„Wenn’s ſo wäre! Ich habe die Berge an der Elbe geſehen mit mächtigen Burgen und mannhaftem Kriegsvolk darin. Seit der Sachſenkönig Heinrich unſere Leute in Brennabor geſchlagen, iſt die Macht unſers Volkes gebrochen. Auch die Hunnen werden uns nicht mehr retten. Bald werden unſere Feinde kommen und unſere Steinſtadt zerſtören. Unſers Bleibens iſt hier nicht mehr. Wir müſſen ins Land der Luſitzer. Doch, eins noch kann uns helfen. — Sieh!“
Er zog aus dem Mantel etwas Glänzendes hervor. „Sieh!“
„Das iſt das Kreuzbild des Frankengottes. Woher haſt du das?“
„Ich hab’s vom Altare an der Meiſſaburg genommen. Wenn die Franken kein Gottesbild mehr haben, dann fehlt ihnen auch ſeine Hilfe. Meinſt nicht auch?“
„Wenn’s ſo wäre! Doch laß uns das güldene Kleinod mit den ſchönen Steinen verbergen! Weißt, der Sorbe ſchont des Bruders nicht, wenn er Schmuck ſieht. Ich weiß ein ſicheres Verſteck.“
So ritten ſie den Berg hinauf nach dem Totenſteine, an deſſen letztem Stieg ſie abſaßen und die müden Roſſe am Zügel führten.
Zur ſelben Stunde wanderte Jungraban am Plißnibache aufwärts. Er ſtrebte nach dem höchſten Punkte des Bergzuges. Steil führte der Pfad endlich zum gewünſchten Ziele. Weithin nach Oſt und nach Weſt that ſich ihm die Welt auf. Nichts als Baumwipfel unter und blauer Himmel über ihm! Ein Fels in Geſtalt eines Rieſenpilzes zierte die Stelle; die Schwärze des Rieſenhutes
deutete klärlich an, daß er als Brandſtätte gedient hatte. Um ihn, in Hufeiſen geordnet, ſtanden halb in den Boden vergrabene Aſchekrüge und um dieſe Schalen aus Thon. Es waren Thränennäpfchen, in denen die Thränen geſammelt waren, welche trauernde Mütter um die Kinder, die Kinder um die lieben Eltern, die Braut um den verlornen Bräutigam, der Bräutigam um die heimgegangene Braut, die Gatten um die verlorenen Gatten geweint hatten. Solange noch Thränen um einen Toten geweint wurden, ſo lange hatte der Tote nicht Ruhe im Grabe; und er entſtieg um Mitternacht ſeiner Urne und umſchwebte die Hütte, in der Weinende noch ſeufzten. Erſt nachdem die Thränen verſiegt waren, kam er zur Ruhe.
Jungraban ſtand auf einer ſorbiſchen Begräbnisſtätte, die zugleich Opfer altar für den Czernebog, den ſchwarzen Kriegsgott, war; Säulen von Pferde knochen und die Gebeine geopferter Kriegsgefangener deuteten ihm dies an. Er befand ſich auf dem Totenſteine.
Jungraban ſchauderte nicht. In dem wilden Kampfe um das Daſein, in welchem die Völker damals miteinander rangen, war ein jäher, grauſamer und ſchmerzlicher Tod etwas Alltägliches.
Beim Umgange um den Felſen zeigten ſich Fußſpuren. Ihnen folgend, entdeckte er den Eingang in eine Höhle, die ſich unter dem Totenſteine hinzog. Ein willkommener Fund! Er beſchloß, hier zu raſten und Nachtruhe zu halten. Nachdem er ſich an Beeren und Wurzeln gelabt und am Quell ſeinen Durſt ge ſtillt hatte, machte er es ſich auf dem weichen Mooſe in der Höhle behaglich, lehnte den Speer an die Wand, ſtreckte die müden Glieder aus, ſchlug drei Kreuze über ſich zum Schutze gegen die Dämonen der Heiden und ſchloß die müden Augenlider zum feſten Schlummer.
Draußen hatten ſich ſchwarze Wolken zuſammengeballt und entſandten fahle Blitze über die Baumwipfel. Es machte Mitternacht herangekommen ſein, als der Schläfer die Augen wieder aufſchlug. Ein Schauer durchrieſelte ihn, nicht aber von der kühlen Nachtluft, ſondern von dem, was er ſah. Sich bekreuzend, hielt er den Atem an ſich. Die enge Höhle war zu einem weiten Raume gewor den, der im matten Scheine einer Vollmondsnacht leuchtete. Rundum blitzte und glänzte und glitzerte allerlei koſtbares Geſtein und metallenes Gefäß und Ge ſchmeid. Dem Eingange der Höhle gegenüber erhob ſich ein Silberblock wie ein Thronſeſſel.
Auf demſelben erblickte er eine unheimliche Geſtalt. Funkelnden Blickes, das ſchwarze Antlitz von flachsartigem Haarwuchſe umgeben, machte ſie wohl die Größe eines achtjährigen Knaben haben. In der Rechten trug ſie ein blitzendes, krummes Schwert; ein purpurfarbener Königsmantel wallte von den Schultern herab, und um das große, dicke Haupt ſchlang ſich ein Goldreif. Um den Thron ſtanden die Berg-, Wald-, Waſſer- und Luftgeiſter des Miriquidiwaldes, die Waldgeiſter mit grünen Fichtenzweigen um die Köpfe, die Berggeiſter mit langen Bärten und mit ſpitzen Hacken in den Händen, die Waſſergeiſter mit Teichroſen geſchmückt und kleine Namen tragend, die Luftgeiſter mit Fledermausflügeln an den Schultern: lauter zwerghaftes, mißgeſtaltetes Volk. Sie beugten ſich alle vor ihrem furchtbaren Gebieter, dem ſchrecklichen Czernebog.
„Ihr Geiſter des Berges, des Waldes, des Waſſers und der Luft,“ ließ ſich deſſen Stimme vernehmen, „was bringt ihr mir am Tage der Sonnenwende als Tribut für meinen Schutz?“
Und die Berggeiſter traten herzu und ſchütteten blauſchimmernde Edelſteine in die vor dem Throne ſtehende Truhe.
„Großmächtiger Czernebog,“ riefen ſie, „das bringen wir dir aus dem Schlunde der ſteinernen Schnecke. Nimm’s an in Hulde!“ Der Herrſcher zwin kerte freundlich mit den Augenwimpern.
Und die Waldgeiſter traten herbei und ſchütteten ſchwarzes Geſtein glanz ſchimmernd auf die Truhe und riefen: „Schwarzes Gold iſt’s, welches wir tief unter den Wurzeln der Tannen erſchürft haben. Laß dir’s wohlgefallen, hoher Gebieter!“ Und Czernebog nickte gnädig mit dem Haupte.
Und die Waſſergeiſter brachten Muſcheln mit herrlichen Perlen und fügten ſie zu Czernebogs Schatz, baten um Gunſt und erhielten ſie zugeſichert mit grin ſendem Lachen.
Zuletzt kamen die Luftgeiſter geſchwirrt und legten auf die Truhe ein mit Gold und Edelftein reich geſchmücktes Kruzifix.
„Dieſes Schmuckſtück haben wir von den Chriſten aus dem Tempel auf dem Berge an der Meiſſa erbeutet. Mag’s dich gefreuen, hoher Czernebog!“
„Wehe, wehe, was bringt ihr uns? Das iſt der gewaltige Chriſtengott, an dem alle Volks- und Naturgötter zerſchellen. Wo er ſeinen Einzug hält, da kommen ſeine Knechte nach, und alle Berg-, Wald-, Waſſer- und Luftgötter ſind verloren! Unſere Altäre ſtürzen, unſere Beſten wanken!“
„Im Namen des dreieinigen Gottes, fahrt zur Hölle, ihr Teufelsbrut, ihr Dämonen der Finſternis!“ Jungraban rief‘s, er war aufgeſprungen und hatte ſeinen Speer auf die Truhe geworfen. Mit ftarkem Arm riß er das Kruzifix an ſich, hob es in die Höhe und rief nochmals mit donnernder Stimme: „Gelobt ſei Jeſus Chriſtus in Ewigkeit! Fort mit euch in den brennenden Pfuhl, ihr Kirchenräuber!“
Da ſchrillte und pfiff und fauchte es in der Luft: „Huſſein, hui, hui holla!“ Donnerſchläge krachten, daß die Felſen erbebten. Der Lichtglanz erloſch. Jungraban fühlte ſich an die Höhlenwand geſchleudert und fiel betäubt zu Boden. Undurchdringliche Finſternis umgab ihn, bis das Tageslicht zum Eingange herein drang. Er ergriff ſeinen Speer und ſtürzte vor die Höhle. Sich umblickend, bemerkte er, wie die Truhe ſamt den Schätzen in die Erde verſank und nur noch ein matter Glanz, wie von Johanniskäfern herrührend, auf dem Boden lag. In der Rechten aber hielt er das den Dämonen entriſſene Kruzifix.
Er hob es dem Morgenlicht entgegen, ſank auf die Kniee und betete alle frommen Gebete, die er von den Prieſtern gelernt hatte: das Benediktus und das Kyrie, das Ave Maria und das Paternoſter. Nun verließ er den Totenſtein.
„Hildigis, der Gekreuzigte führe mich zu dir; bringt er doch Gnade allen Sündern, Gnade auch mir!“
IV. Die Sühnung.
Das heilige Kleinod am Buſen tragend, ſchritt der Friedloſe vom Berge hinab, während er im Geiſte ſich das Erlebnis der Nacht zurechtlegte. Sein Schritt ging der Morgenſonne entgegen auf Fährten, auf welchen die Jäger das mißtrauiſche Wild zu beſchleichen pflegen. Nach einſtündigem Wandern gelangte er auf eine tiefer gelegene Waldkuppe, die mit einer einzeln ſtehenden, breitarmigen Linde gezeichnet war und eine weite Umſchau in das tief gelegene Chamnizin – die Steinſtadt — bot. Von Buſchwerk halb verdeckt, bemerkte er eine männ liche Geſtalt.
„Ein Kuttenmann!“ flüſterte er leiſe vor ſich hin.
Das Kniſtern und Rauſchen der Buſchzweige, durch welche er ſich zwängte, hatte ihn jedenfalls verraten. Der Mönch wollte ſich eiligen Schrittes entfernen.
„Gelobt ſei Jeſus Chriſtus!“ rief Jungraban ihm zu.
Der Mönch ſtand. „In Einigkeit, Amen!“ gab er zurück. Er trat zögernd näher. „Wie kommt ein Chriſtenmenſch in das Land der heidniſchen Finſternis?“
„Wer friedlos gemacht worden iſt, muß der nicht Heimat und Genoſſen meiden?“
„Haſt gewiß in blinder Wut deine Hand in Menſchenblut getaucht, wie ihr wilden Mannen ſo gern thut, die ihr keinen Unterſchied macht zwiſchen der un vernünftigen Kreatur und dem Ebenbilde Gottes, dem Erlöſten Chriſti!“
Jungraban nickte ſtumm. „Ja, ehrwürdiger Bruder, das weiß Eures gleichen auch nicht, wie unſereinem das Blut kocht, wenn ein Schurke einem das Liebſte mit Kot beſudelt.“
Jetzt ging dem frommen Mann ein Zucken über das Antlitz. „Man muß nicht immer Mönch geweſen ſein. — Was trägſt du aber unter dem Gewande?“
Einen Augenblick ſtand der Mönche wie verſteinert. „Das iſt ja das herr liche Gottesbild, welches der Heilige Vater in Rom dem neuen Dome in Meißen geſchenkt hat, und das von frechen Händen vom Altare weg geraubt worden iſt!“
Jungraban erzählte nun ſein nächtliches Erlebnis in der Höhle am Toten ſteine. Der Mönch bekreuzte ſich und rief erfreut: „So biſt du unter den Geiſtern der Hölle und unter den Dämonen der Finſternis geweſen und haſt ihnen das Kleinod des Evangeliums entwunden! Geſegnet ſeiſt du ob dieſer That! Wie der heilige Georgius haſt du mit Drachen und Schlangen gekämpft. Das ſoll dir zum Heile gereichen. Deine Schuld ſoll von dir genommen werden. Wiſſe, ich bin von dem hochwürdigen Biſchof Benno von Meißen geſandt, um aus zuſpähen, wohin das Heiligtum des Domes gekommen iſt. Und ich, Bruder Anſelmus, will dich nun nach Meißen geleiten und für dich ſprechen. Der hoch würdige Biſchof wird ſeine Hände auf dein Haupt legen und deine blutbefleckten Hände entſündigen; dann wirſt du gereinigt an den heimiſchen Herd zurückkehren dürfen.“
Nun reichten ſie einander die Hände. Vereint wanderten ſie den Weg gen Oſten durch Wald und Thal, über Berg und Sturzbach, bis ſie an die
Fluten des mächtigen Elbſtroms gelangten. Dort, wo die Hügel von Weſten her in Ringform an den Strom ſich drängen und die letzten Ausläufer ſchon den Fuß ins Waſſer tauchen, krönte ein Steinbau mit Mauern und Türmen den Berg gipfel, trotzig hineinſchauend ins jenſeitige Sorbenland.
„Das iſt die Burg Meißen, welche der glorreiche König Heinrich der Sachſe zur Abwehr des Anſturmes räuberiſcher Sorben angelegt hat, und das Kuppel dach iſt der Dom, welchen ſein großer Sohn Otto erbaute, um den Weinſtock des Evangeliums hier einzupflanzen. So waltet neben der Schneide des Schwertes das Wort vom Kreuze, um die rauhen Weiſen deiner Landsleute zu zähmen, damit, wie Jeſaias ſagt, das Lamm neben dem Löwen graſe. Wir haben euch ge lehrt, den Acker zu bauen und mit dem Schweiße der Arbeit den Boden zu netzen anſtatt mit Menſchenblut.“
Ein Fähnlein Gewappneter ritt daher, allen voran der ſtattlichſte als Führer hell glitzerten die Stahlhelme und Rüſtungen im Sonnenglanze.
„Markgraf Thimo von Wettin!“ deutete der Mönch dem Jünglinge, deſſen Augen bei dieſem Anblicke hell aufleuchteten.
Sie gelangten an den Steinbau des Domes. An den Stufen desſelben befahl der Mönch: „Harre hier, bis ich dem hochwürdigen Biſchof Meldung ge than habe.“
Jungraban ſetzte ſich nieder auf die Kirchenſtufen. Sein Gemüt durch ſchwirrten fröhliche und ängſtende Gedanken zugleich. Im Kampfe mit Bär, Wolf und Ur halfen thut ſein ſcharfes Auge, ſein markiger Arm und ſein ge ſchmeidiges Gelenk; aber in das Gewebe heiliger Bräuche und Satzungen mochte ſich der Kopf des Naturmenſchen nicht hineinfinden. „Was werden ſie mit mir beginnen? Zur Not habe ich noch meinen Speer und mein Steinbeil. In Ketten laſſe ich mich nicht ſchlagen und werde, wie unter das Zaubervolk, ſo auch Unter die Kuttenmänner hineinhauen, wenn ſie mich fahen wollen.“
Freundlicher aber war das Bild, das er ſich nun ausmalte: der Biſchof legte väterlich die Hände auf ihn und entließ ihn geſegnet in die Heimat, wo er geſühnt vor Hildigis trat. „O Hildigis!“ rief er, ſich ſelbſt vergeſſend, „Jung raban kommt wieder zu dir!“
Aus dem geöffneten Portale des Biſchofshauſes trat jetzt der Biſchof, ge ſchmückt mit Mitra und Meßgewand und begleitet von den Prieſtern und Diakonen, unter ihnen Pater Anſelmus. Sie nahten feierlich dem Dome. Anſelmus faßte Jungraban am Arme und zog den Sträubenden mit ſich fort. Am Altare, auf welchen der Biſchof das Kruzifix ſetzte, knieten ſie nieder, und leiſe Dankgebete, gemiſcht mit lauten Lobgeſängen, ſtiegen zum Himmel empor. Dann wandte ſich der Biſchof zu dem ſtaunenden Jünglinge, der jetzt noch allein am Altare kniete, und ſeine Stimme klang feierlich wie eines Gottes Stimme:
„Jungraban, aus den Mannen der Burg des heiligen Rochus, bezeuge vor dem allwiſſenden Gott und allen ſeinen Heiligen, daß du dies Kreuzbild des Er löſers in der Höhle am Totenſteine im Sorbenlande den Dämonen der Heiden entwunden und hierher gebracht haſt, damit es wieder an heiliger Stätte ſtehe zum Troſte gläubiger Chriſten.“
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Jungraban rief: „Ich bezeuge es vor Gott und allen Heiligen, ich habe es gethan.“
Der Biſchof ſchlug dreimal das Kreuz über Jungrabans Hände, legte die Hände auf ſein Haupt und ſprach lateiniſche Sprüche, die Jungraban zwar nicht verſtand, bei denen es ihn aber durchrieſelte bis in Mark und Bein, als ſtiege er in ein kühlendes Bad. Dem Biſchofe nach thaten die Prieſter und Anſelmus gleich alſo.
„Du biſt geſühnt, und des Domes Schreiber ſoll dir ein Pergament mit Schrift und Spruch ausſtellen, damit du ſtraffrei unter die Deinen zurückkehren kannſt. Kein Menſch auf der Erde ſoll dir deine Schuld vorwerfen dürfen, wo fern er nicht in den Bann der heiligen Kirche verfallen will, die da Macht hat zu binden und zu löſen im Namen des dreieinigen Gottes.“
Und es geſchah alſo.
Pater Anſelmus übernahm es gern, ſeinen Reiſegefährten vom Miriquidi in die Heimat zu geleiten. Nach zwei Tagen hielten zwei Reiter vor der Pfahl burg des heiligen Rochus am Strome der Mulde. Der Mönch verdeutſchte dem Gaurichter Ottfried und ſeinen Schöppen das Pergament und deutete ihnen Siegel und Wappen, und der Richter wandte ſich an ſeine Genoſſen und ſprach:
„Ihr wißt, freie Mannen, daß wir Jungraban wegen jäher Gewaltthat, an dem Stammesgenoſſen Luitwolf begangen, aus dem Frieden des Gaues ge bannt haben nach den Rechten unſers Volkes, bis er durch eine rühmliche That ſeine Schuld geſühnt habe. In dieſem Pergamente thut uns das hochwürdige Domkapitel zu Meißen kund, daß Jungraban das heilige Bild des Erlöſers, das frech vom Altare weggeſtohlen war, aus dem Lande der Sorben, unſerer Feinde, gerettet und wieder an heilige Stätte gebracht hat. Haltet ihr dieſe That für vollwichtig genug, ihn in den Frieden des Gaues wieder aufzunehmen? Gedenkt dabei, daß Luitwolf nach kurzer Niederlage ſich wieder vom Lager erhoben und vermocht hat, zum Kriegsheere des Kaiſers in Welſchland zu ſtoßen, ſomit nur geringen Schaden am Leibe und Wohlſein erlitten hat. Sprecht als freie ger maniſche Männer!“
„Es ſei ihm zu Lob und Ehren gerechnet!“ und ſie ſchlugen die Schwerter klirrend zuſammen.
„So ſoll Prieſterwort durch Volksſpruch beſtätigt ſein!“ Und der Richter gürtete dem Geſühnten das Schwert um zum Zeichen, daß er wieder zu den freien Mannen gezählt werde.
Jungraban erhob ſich und ſchwang das Schwert dreimal über ſeinem Haupte, wie der Brauch es forderte.
Seine Blicke flogen umher. — „Ich weiß, wen du ſuchſt, du ſollſt ſie ſehen,“ ſprach der Richter. Er führte ihn ins Frauengemach.
„Hildigis!“ — „Jungraban!“ klang’s zuſammen wie Glockengetön, und was weiter geſchah, mag jedes Herz ſich ſelbſt ſagen, das nach langer, banger Trennung ſein Liebſtes auf Erden wiederſieht.
In kurzem unternahmen die Gewappneten des Stromgaues einen Streifzug ins Sorbenland. Sie fanden daſelbſt die Hütten verlaſſen; ein Schrecken war
über die Sorben gekommen, ſo daß ſie ihr Heil im Abzuge geſucht hatten. In der Nähe der Linde, wo Jungraban den Mönch getroffen hatte, baute er ſich eine Pfahlburg, in welche er mit den Schwertgenoſſen und mit ſeiner Hildigis einzog. Enkel und Urenkel bauten den Pfahlbau in einen Steinbau um und nannten ihn nach dem Ahnen ihres Geſchlechts Rabenſtein.
Pater Anſelmus kam mit geiſtlichen Brüdern aus dem Meißnerlande herbei, und ſie ließen ſich in Einſiedeleien nieder, damit neben der Schärfe des Schwertes auch die Milde des göttlichen Wortes weile. Reiche Gaben von fürſtlicher und geiſtlicher Hand wandelten die Einſiedeleien in ein dem heiligen Benediktus ge weihtes Kloſter um.
Je lichter es im Miriquidiwalde und im Steinbachthale oder, wie es die Sorben nannten, im Chamnizin (Chemnitzthale) wurde, um ſo fröhlicher blühte das Land Unter dem Schutze des Schwertes und unter der Hand des Pflügers auf, und die Nachwelt weiß nichts mehr von den Schreckniſſen des Miriquidi waldes und wandert im Frühlinge in Scharen mit Sang und Klang an den ge brochenen Mauern und dem zerfallenen Turme von Rabenſtein und an der Mond ſcheinlinde vorüber hinauf zum Totenſtein.
Wilhelm Schilling.