Kapitel 45. Die erſte Eiſenbahn Sachſens.

Wir Kinder der Gegenwart können uns die Welt gar nicht anders vorſtellen als ſo, wie ſie eben jetzt beſchaffen iſt. Die Hunderte von Einrichtungen, welche auf Handel und Verkehr, auf Kunſt und Wiſſenſchaft, ſowie auf bürgerliche und häusliche Verhältniſſe einen vorteilhaften Einfluß ausüben und uns das Leben angenehm und intereſſant geſtalten, erſcheinen uns, weil wir ſie im höchſten Grade notwendig finden, auch in gleichem Grade ſelbſtverſtändlich.

Und doch hat es eine Zeit gegeben — dieſelbe liegt auch noch gar nicht zu weit hinter uns — da man weder Eiſenbahnen und Dampfſchiffe, noch Tele­ graph und Telephon, weder Photographie, noch elektriſche Beleuchtung u. dgl. kannte. Die Eiſenbahnen ſind unter den genannten Erfindungen noch die älteſte, und dennoch iſt, wenigſtens für Deutſchland, ihre Einführung erſt wenig mehr als 50 Jahre alt. Die bejahrteren Perſonen aus dem jetzt lebenden Geſchlechte werden ſich noch zu erinnern wiſſen, daß man in ihrer Jugendzeit drei volle Tage brauchte, um eine Reiſe von Dresden nach Leipzig zu machen, daß ein Beſuch der

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Heilquellen von Teplitz oder Karlsbad in der Familie ebenſoviel Aufhebens ver­ urſachte wie jetzt etwa eine Fahrt über den Ocean, und daß mancher bedeutende Mann ſtarb, ohne die Grenzen ſeines Heimatsbezirks überſchritten zu haben. Mit der Erfindung und der Anlegung der Eiſenbahnen wurden ſo viele und ſo ge­ waltige Veränderungen im Leben unſeres Volkes hervorgerufen, daß man gerade­ zu behaupten kann: Zu dem betreffenden Zeitpunkte hörte die „alte Zeit“ auf, und ein neues Zeitalter brach an. Es iſt daher gewiß gerechtfertigt, daß wir der Einrichtung der erſten Eiſenbahn im Lande als eines Ereigniſſes von groß- artigſter Bedeutung dann und wann einmal dankbar gedenken. Das Nachſtehende mag als ein Erinnerungsblatt für uns und unſere Kinder dienen.

Als Erfinder der Eiſenbahnen iſt Robert Stephenſon, zugleich der Er­ finder der Lokomotive, zu bezeichnen. Durch ihn wurde am 27.September 1825 die erſte Eiſenbahn für öffentlichen Perſonen- und Güterverkehr zwiſchen Acton und Darlington in England feierlich eröffnet. Die Züge verkehrten auf der­ ſelben urſprünglich nur einmal täglich; die Perſonenwagen hatten ganz die Ge­ ſtalt der damaligen Poſtkutſchen und waren ſo groß, daß jeder etwa 15 Perſonen aufzunehmen vermochte. Fünf Jahre ſpäter hatten ſich die engliſchen Städte Liverpool und Mancheſter eine ähnliche Verbindung geſchaffen, und am Ende des Jahres 1829 wurde die erſte Eiſenbahn in den Vereinigten Staaten von Nord­ amerika dem Verkehr übergeben. In Deutſchland machte man mit der kleinen Strecke zwiſchen Fürth und Nürnberg einen ſchüchternen Anfang. Für Sachſen gab den erſten Anſtoß zur Legung eines Schienenweges Friedrich Liſt, geboren 1789 zu Reutlingen in Württemberg, von 1833 ab Amerikaniſcher Kon­ ſul in Leipzig, der die engliſchen und amerikaniſchen Bahnen aus eigener An­ ſchauung kannte. In einer ſehr bedeutſamen Schrift, die er über die Gründung eines allgemeinen deutſchen Eiſenbahnnetzes herausgab, betonte er namentlich die Notwendigkeit einer Bahnverbindung zwiſchen Leipzig und Dresden.

Aber der Gedanke kam nicht ſo ſchnell zur Ausführung, als es wünſchens­ wert geweſen wäre und Liſt gehofft hatte. Es gab Leute genug, die jenen Ge­ danken für „eine irrſinnige Idee“ erklärten, bei deren Verwirklichung das Geld zum Fenſter hinausgeworfen werden würde, und die Liſt geradezu die Fähigkeit abſprachen, ein vernünftiges Urteil zu fällen. Dazu kamen noch mancherlei Äußerungen des Eigennutzes: die Fuhrleute fürchteten, ihr Brot zu verlieren; die Wirte ſahen große Schädigungen ihres Gewerbes voraus; die Landleute ſträubten ſich gegen die Zerreißung ihrer Fluren durch die Bahndämme und klagten ſchon im voraus über den Rückgang der Fruchtbarkeit infolge der Rauch- und Dampfbeläſtigungen; ja, einige alte Leute, die nur aus oberflächlichen Berichten ſich ein Bild von der neuen Erfindung gemacht hatten, erblickten in derſelben gar ein Werk des Teufels. Aber nicht nur Leute von niederer Bildung waren die Gegner, ſondern auch in den Klaſſen der Höhergeſtellten konnte man teils gering­ ſchätzige, teils feindliche Anſichten zu hören bekommen.

Liſt ließ ſich jedoch durch alles dies nicht irre machen, und glücklicherweiſe gab es auch weitſchauendere Perſonen, die ihn kräftig unterſtützten. Dieſe Per­ ſonen gehörten meiſt dem Leipziger Kaufmannsſtande an; es ſeien hier nur

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die Namen Wilhelm Seifert und Guſtav Harkort genannt. Auch die ſäch­ ſiſche Regierung kam dem Plane Liſts mit Wohlwollen und Verſtändnis ent­ gegen, und ſo ward im Jahre 1834 der Bau be­ ſchloſſen. Die Mittel wur­ den durch Ausgabe von Aktien aufgebracht, und die ſächſiſche Regierung ge­ ſtattete dem Geſchäftsdirek­ torium, gegen Verpfändung von Grund und Boden ½ Million unverzinslicher Kaſſenſcheine in Umlauf zu ſetzen. So kamen un- gefähr 4 Millionen Thaler zuſammen, hinreichend für die Erwerbung des nötigen Landes und für die Her­ ſtellung der Betriebsanla- gen und Betriebsmittel. Im Jahre 1835 wur- den die erſten Arbeiten be­ gonnen, und vier Jahre ſpäter war unter Leitung des Oberingenieurs Kunz der geſamte Bau mit Via­ dukten, Brücken, Bahnhofs- anlagen und dem 420 m langen Tunnel bei Oberau vollendet. Freilich hatte die ganze Linie damals nur ein Geleis, und die Bahn­ hofsbauten waren von der erdenklichſten Einfachheit; auch die Bahnwagen glichen den jetzigen durchaus nicht. Nur die Wagen der erſten Klaſſe waren geſchloſſen und mit Fenſterſcheiben ver­ ſehen; die der zweiten hatten nur ein Verdeck und an den Seiten Zugvorhänge; die der dritten aber waren ganz offen, ähnlich den Kohlenlowries in unſeren Tagen.

Die Reiſenden dieſer Klaſſe waren ſomit dem Zuge, dem Regen, der Sonnenglut

Der erſte Zug auf der Leipzig-Dresdner Eiſenbahn. Der erſte Zug auf der Leipzig-Dresdner Eiſenbahn.

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und dem Staube ausgeſetzt, auch in ſteter Gefahr, durch die Schornſteine der Lokomotive entfliegenden Funken all Geſicht und Kleidung geſchädigt zu werden. Es wurden daher auf den Bahnhöfen den Mitfahrenden Geſichtsmasken und Schutz­ brillen zum Kauf angeboten; auch verſah ſich jeder Reiſende mit einem großen Leinwandmantel zum Überziehen.

Wahrlich, eine ſolche Eiſenbahnfahrt hatte wenig Verlockendes, und doch konnten die Leipziger den Augenblick kaum erwarten, in welchem ſie mit Dampfes­ flügeln den Thoren der Stadt enteilen würden. Der erſehnte Tag kam früher als man anfangs gehofft hatte. Die Strecke wurde teilweiſe eröffnet; im April 1837 konnte der erſte Zug von Leipzig bis Althen abgelaſſen werden, und ein Jahr ſpäter fuhr man ſchon bis Wurzen. Der Andrang zu dieſen Fahrten war geradezu ungeheuerlich, und Tauſende mußten zurückbleiben, da es an Betriebs­ material fehlte und die erſten, aus England verſchriebenen Lokomotiven nur eine geringe Zahl von Wagen fortzubewegen vermochten. Die Verhaltungsmaßregeln

Der erſte Bahnhof in Sachſen. Der erſte Bahnhof in Sachſen.

für die Mitfahrenden waren ſehr ſtreng; es mußte z. B. jeder bereits bei dem erſten Glockenzeichen, alſo ſchon ¼ Stunde vor der Abfahrt, ſeinen beſtimmten Platz einnehmen, von dem er während der ganzen Fahrt nicht wieder aufſtehen durfte, u. dgl.

Im Frühjahr 1839 war der Bau ſo weit gediehen, daß die ganze Linie von Leipzig bis Dresden befahren werden konnte. Am 7. April desſelben Jahres fand die Probefahrt und damit die Einweihung der Bahn ſtatt. Die Fahrt nahm ihren Ausgang von Leipzig. Es beteiligten ſich nebſt den Ver­ tretern der Aktiengeſellſchaft die höchſten Staatsbehörden und ein zahlreiches Publikum. Unter Muſik und Hurrarufen der verſammelten Menge ging der Zug vom feſtlich geſchmückten Bahnhofe ab, und nach 3½ Stunden langte er in Dresden an. Am folgenden Tage wurde eine ähnliche Fahrt von Dresden aus unternommen, an der auch der König, die Königin und die Prinzen und Prin­ zeſſinnen teilnahmen. Beide Züge erreichten glücklich ihr Ziel und wurden unter­ wegs mit Muſik, Böllerſchüſſen und Anſprachen begrüßt.

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Von da ab verkehrten regelmäßig täglich 2 Perſonen- und 2 Güterzüge in der Richtung von Leipzig nach Dresden und entgegengeſetzt. Die Fahrtdauer war 3 Stunden und etwas darüber, der Fahrpreis betrug 3 Thaler für I. Klaſſe, 2 Thaler 8 Groſchen für II. Klaſſe und 1 Thaler 15 Groſchen für III. Klaſſe.

Unterſcheiden ſich Fahrtdauer und Fahrpreiſe von damals nur wenig von denen der Gegenwart, ſo iſt in anderen Dingen im Laufe der Zeit eine ge­ waltige Veränderung eingetreten, und das ſächſiſche Eiſenbahnweſen hat ſich zu einer dazumal kaum geahnten Vollkommenheit entwickelt. Der erſten ſächſiſchen Eiſenbahn ſind im Laufe eines halben Jahrhunderts zahlreiche andere gefolgt. Außer der 115 Kilometer langen Leipzig-Dresdner Linie haben wir jetzt noch Schienenwege in der Länge von 2670 Kilometer, und der Perſonen­ und Güterverkehr iſt in faſt unglaublicher Weiſe gewachſen.

Die Göltzſchthalbrücke. Die Göltzſchthalbrücke.

Die gelbe Poſtkutſche mit dem gemütlichen muſikaliſchen „Schwager“ als Wagenführer iſt ganz ſelten geworden, weil es kaum eine Stadt in Sachſen mehr giebt, die mit ihren Schweſtern nicht durch Eiſenbahn verbunden wäre; und die Zeit liegt gewiß nicht in allzuweiter Ferne, wo eine Poſtkutſche und eine „Extra­ poſt “ von unſern Kindern ebenſo angeſtaunt werden wird, wie von unſern Vettern einſtmals der erſte Eiſenbahnzug.

Während man beim erſten Eiſenbahnbau allen Schwierigkeiten ſorgfältig aus dem Wege ging, ſchreckte man bei ſpäteren Anlagen auch vor den größten Hinderniſſen nicht mehr zurück; man führte Bahnen an den ſteilſten Abhängen hin, durchbrach die härteſten Felſen und überbrückte weite und tiefe Thäler in der kühnſten Weiſe. Die Kunſtbauten, die zu dieſem Zwecke entſtanden, ſind mit Worten kaum zu beſchreiben. Ein veranſchaulichendes Bild bietet die Göltzſchthal­ überbrückung auf der ſächſiſch-bayriſchen Bahnlinie. In vier Stockwerken er­ heben ſich Pfeiler auf Pfeiler, in luftigſter Bogenſpannung miteinander verbunden, und der Zug brauſt in einer Höhe von 80 Metern über der Thalſohle auf dem 500 Meter langen Rieſenbaue doch ſo ſicher dahin, als führe er auf ebener Erde.

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Neuerdings hat man auch das früher unmöglich Scheinende möglich gemacht und Bahnen über die Gebirge gebaut. Faſt 1000 Meter hoch klettert jetzt das keuchende Dampfroß, eine lange Kette von Wagen hinter ſich herſchleppend, den Kamm des Erzgebirges hinauf und ſteigt auf der anderen Seite wieder hinab zu den fruchtbaren Gefilden des benachbarten Böhmerlandes, um den Reichtum jener geſegneten Gegenden unſerem Sachſenlande und namentlich den armen Gebirgsbewohnern zuzuführen.

Die Eiſenbahnen ſind nicht nur ein Triumph des denkenden und ſchaffenden Menſchengeiſtes, ſondern vor allem auch rechte Wohlthäter der Menſchheit und die ſicherſten Träger der Kultur. Ein Land, das viel Eiſenbahnen beſitzt, ſteht auf einer hohen Stufe der Entwickelung. Ein ſolches Land iſt unſer Sachſenland.

MoritzBaron.