Kapitel 42. Leipzig, die größte Stadt des Sachſenlandes.

42.1. 1. Allgemeine Geſchichte des alten Leipzigs.

Dort, wo ſich die Pleiße und die Parthe mit der Elſter vereinigen, befand ſich vor etwa 1200 Jahren noch ein großer Wald, der von allerlei wilden Tieren bewohnt wurde. Die von Zeit zu Zeit aus ihren Ufern tretenden Gewäſſer bildeten viele Sümpfe, die nicht allein gefährliche Dünſte verbreiteten, ſondern auch jeden feſthielten, der es wagte, in ihre Nähe zu kommen. Trotz dieſer wenig verlockenden Lage ſiedelten ſich doch die alten Sorben-Wenden in dieſer Gegend an, weil dieſe zur Fiſcherei, Jagd und Schiffahrt vortrefflich geeignet war. Bald erhoben ſich an den Ufern der Elſter, Pleiße und Parthe wohlgezim­ merte Holzhütten. So entſtand das Dorf Lipsk, d.h. Lindenort, jedenfalls ſo genannt, weil der dichte Wald hauptſächlich aus Linden

Ansicht von Leipzig zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Ansicht von Leipzig zu Anfang des 18. Jahrhunderts.

beſtand. Die Namen mehrerer anderer Orte der Umgebung, wie Lindenau, Lindenthal, Lindhardt u. ſ. w. deuten auf den näm­ lichen Umſtand hin.

Die Urbewohner Leipzigs trieben vorwiegend Jagd und Fiſchfang; ältere Leute, die nicht mehr mit den Bären, Wölfen und Luchſen des Waldes kämpfen mochten, brannten irdene Töpfe; wieder andere bebauten mit einem hölzernen Hakenpfluge den kleinen Acker in der Nähe der Hütte, damit er ihnen das Getreide zum Brot liefere.

Nach und nach entſtanden neben Lipsk noch andere Ortſchaften, die gleich­ falls von Sorben-Wenden bewohnt wurden, und deren Namen noch heute an ihren ſlaviſchen Urſprung erinnern, ſo z. B. Reudnitz, Gohlis, Eutritzſch, Gautzſch, Leutzſch, Plagwitz, Connewitz, Groß- und Kleinzſchocher und andere.

Weſtlich von der Elſter, alſo in Thüringen, wohnten damals Deutſche, mit denen die Sorben-Wenden fortwährend Kämpfe führten. Als Kaiſer Heinrich I. an der Spitze Deutſchlands ſtand und ſeine ſiegreichen Kriege gegen die Slaven führte, da fühlten auch die Sorben-Wenden von Lipsk ſeine Macht und unterwarfen ſich ihm.

Der Auguſtusplatz in Leipzig zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Auguſtusplatz in Leipzig zu Anfang des 19. Jahrhunderts.

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Der Kaiſer ließ dort, wo die Parthe in die Pleiße mündet, eine feſte Burg errichten, die den Deutſchen eine ſichere Zufluchtsſtätte vor den feindlichen Sor­ ben bot. Mit der Zeit mehrten ſich die Deutſchen in der Gegend und bauten unter dem Schutze der Burg ihre Holzhäuſer, die bald ſo zahlreich wurden, daß ſie eine weite Fläche bedeckten. Die jetzige innere Stadt, deren Mittelpunkt der Marktplatz iſt, bildete Um das Jahr 1000 den Wohnſitz der Deutſchen, während weſtlich davon die Sorben ihre Hütten aufgeſchlagen hatten. Obwohl die Deutſchen die Herren, die Sorben aber die Unterdrückten waren, brachte es doch der gegenſeitige Verkehr mit ſich, daß jedes Volk beide Sprachen verſtehen mußte. Bei den Gerichten wurde noch bis zum Jahre 1327 in ſorbiſcher Sprache Recht geſprochen; in dieſem Jahre aber befahl der Markgraf Friedrich der Ernſt­ hafte von Meißen, daß nunmehr die Verhandlungen nur in deutſcher Sprache geführt werden ſollten.

Die Sorben hielten auch nach dem Eindringen der chriſtlichen Deutſchen in Lipsk an ihrem Götzendienſte feſt und verehrten nach wie vor den guten Gott Bielebog und den böfen Gott Czernebog. Im heutigen Naundörfchen befand ſich ein ſorbiſches Götzenbild, Flinz genannt. Es beſtand aus einem Gerippe, das in der rechten Hand einen Stab und auf der linken Schulter das Bild eines Löwen trug. Weil es auf einem Kieſelſteine (Flint) ruhte, mag es den er­ wähnten Namen erhalten haben. Die Sage, daß Bonifacius, der Apoſtel der Deutſchen, um das Jahr 730 ſelbſt in Leipzig gepredigt und das Götzenbild eigenhändig zerſtört habe, wurde lange allgemein geglaubt.

Die Deutſchen, die bei ihrer Einwanderung den chriſtlichen Glauben und chriſtliche Sitten mitbrachten, ſorgten bald dafür, daß auch für ſie eine Stätte der Gottesverehrung am Orte vorhanden war und erbauten die Nikolaikirche, das erſte Gotteshaus der Stadt, das damals freilich nur ein ärmliches, ganz aus Holz hergeſtelltes Gebäude war.

42.2. 2. Leipzig als Handelsſtadt.

Während die Sorben-Wenden nur für die Herſtellung von Gebrauchsgegen­ ſtänden ſorgten, ſoweit ſie deren für ihre eigene Perſon und Haushaltung be­ durften, trieben die deutſchen Einwanderer ſchon mancherlei Gewerbe und tauſchten die Erzeugniſſe ihrer Arbeit mit ihren Nachbarn aus. Wenn aus Lipsk mit der Zeit eine der erſten Handelsſtädte Deutſchlands geworden iſt, ſo hat es dies lediglich den deutſchen Bewohnern zu verdanken. Faſt jedem Handwerke war in jener Zeit eine beſondere Gaſſe oder Straße zugewieſen, und es giebt noch heute Straßen, die nach den betreffenden Gewerben benannt ſind, z. B. Böttcher-, Sporer-, Gerber-, Töpfer-, Schuhmacher- und Kupfergaſſe.

Wegen ſeiner günſtigen Lage in der Mitte Deutſchlands und wegen der ſicheren Heerſtraßen, die hier mündeten, eignete ſich Lipsk ganz beſonders zu einer Handelsſtadt. Aus allen Gegenden des deutſchen Vaterlandes führten die Laſtwagen Waren herbei, die auf den Markt zu Lipsk gebracht wurden. Ge­ treide, feine Gewürze, Häute, Tuch- und Pelzwaren wurden hier gekauft und ver­ kauft, und ſo beſaß der Ort bald eine große Zahl reicher Kauf- und Handels­

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herren. Weil die Märkte damals ſtets durch einen Gottesdienſt oder eine Meſſe eröffnet wurden, nannte man ſie kurzweg Meſſen.

Eine außerordentlich mächtige Förderung ward Lipsk durch den Markgrafen Otto den Reichen zu teil; denn dieſer ließ es nicht nur mit allen Rechten einer Stadt ausſtatten, ſondern auch mit feſten Mauern und tiefen Laufgräben umgeben und ſetzte es dadurch in den Stand, ſich gegen anrückende Feinde mit Erfolg zu verteidigen. Segensreicher noch als dieſe Vergünſtigung er­ wies ſich aber die Gründung der Oſter- und Michaelismeſſe durch dieſen gütigen Fürſten um das Jahr 1168. Damit zu dieſen Meſſen möglichſt viele Käufer und Verkäufer kämen, beſtimmte er, daß im Umkreiſe von einer Meile überhaupt keine anderen Märkte abgehalten werden durften. Im Jahre 1458 gründete Friedrich der Sanftmütige noch die Neujahrsmeſſe, die jedoch niemals die Bedeutung erlangte, wie die ſchon 300 Jahre früher ins Leben gerufenen übrigen Meſſen.

Selbſt deutſche Kaiſer wollten Leipzigs Handel heben: So erließ Maximilian I. im Jahre 1507 ein Geſetz, nach dem innerhalb eines Kreiſes von 15 Meilen kein Jahrmarkt, keine Meſſe oder Niederlage gehalten werden durfte, ja, daß alle in dieſem Umkreiſe erzeugten Waren zuerſt nach Leipzig gebracht und hier drei Tage lang feilgeboten werden mußten, ehe ſie anderswo verkauft werden durften. Naumburg, das dadurch ſein Meßrecht verlor, es aber mit Hilfe der Biſchöfe weiter auszuüben ſuchte, kam gegen Leipzig nicht auf, da ſelbſt der Papſt Leo II. beſtimmte, daß jeder mit dem Kirchenbanne belegt werden ſollte, der gegen das kaiſerliche Gebot handeln würde. Durch dieſes Stapelrecht hob ſich Leipzigs Handel ganz gewaltig, und die Höfe und Geſchäftshäuſer ſteckten zur Zeit der Meſſen ſo voll Waren, daß oft kein Platz mehr für neu ankommende Güter vor­ handen war. Das Standbild des Kaiſers Max prangt jetzt am neuen Kaufhauſe.

Als im Mittelalter, namentlich in der „kaiſerloſen, der ſchrecklichen Zeit“, die Landſtraßen durch die Raubritter unſicher gemacht und die Kaufleute abge­ halten wurden, ihre Waren öffentlich nach den Handelsſtädten zu bringen, litt natürlich auch Leipzig darunter. Aber auch hier half ein gütiger Fürſt, nämlich Dietrich von Landsberg, der Sohn Heinrichs des Erlauchten, durch einen Gnaden­ und Freibrief, in dem allen Kaufleuten zugeſichert wurde, daß niemand das Recht haben ſollte, ſie zu bedrücken oder ihre Güter mit Beſchlag zu belegen. Dieſer Schutz ſollte ſelbſt denen zu theil werden, die aus Ländern ſtammten, mit deren Fürſten Dietrich in Fehde lebte.

Die Erfindung der Buchdruckerkunſt brachte der Stadt inſofern Nutzen, als im Jahre 1513 (andere behaupten, ſchon 1460) eine Buchdruckerei errichtet wurde. Bald entſtanden neue derartige Anſtalten, und heute wird es wohl keine Stadt geben, die ſo viel Buchdruckereien aufweiſen könnte wie Leipzig. Dadurch wurde es auch für den Buchhandel wichtig, und ſchon im 18. Jahrhundert hatte es die Stadt Frankfurt a. M., die früher für den deutſchen Buchhandel ton­ angebend geweſen war, überflügelt. Jetzt iſt Leipzig der Mittelpunkt des ge­ ſamten deutſchen Buch- und ein Hauptplatz des Muſikalienhandels. Nicht nur, daß gegen 250 Verlagsbuchhandlungen ſelbſt einen ſehr großen Teil der

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litterariſchen Erzeugniſſe Deutſchlands auf den Markt bringen, auch anderwärts verlegte Bücher fließen in den Bücherlagern der 158 „Kommiſſionäre“ hier zu­ ſammen und werden durch dieſe in alle Welt verſandt. Alljährlich zu Oſtern wird die Buchhändlermeſſe, die für den deutſchen Büchermarkt eine weittragende Bedeutung hat, in dem ſchönen großen Buchhändlerhauſe abgehalten.

Mit dem erſten Büchermarkte im Jahre 1615 wurde auch zugleich ein Wollmarkt in Leipzig eröffnet, der ſich ſeitdem alljährlich wiederholt. Auch die Leipziger Borſtenmeſſe, die zweimal im Jahre die bedeutendſten Borſtenhändler

Das Buchhändlerhaus in Leipzig. Das Buchhändlerhaus in Leipzig.

der Welt vereinigt, iſt für den Leipziger Handel wichtig; denn bei dieſer Gelegen­ heit werden über 25 Millionen Mark umgeſetzt.

Wenn irgend eine neue Ware in der Welt bekannt werden ſollte, ſo brauchte ſie nur zu den Meſſen nach Leipzig gebracht zu werden. Händler aus allen Weltteilen kamen herzu, ſahen die Neuheiten und kauften ſie, wenn ſie ihnen ge­ fielen. So wurde Leipzig für die Gewerbthätigkeit Deutſchlands eine will­ kommene Vermittlerin. Als die wegen ihres Glaubens aus Frankreich vertrie­ benen Proteſtanten die Seiden- und Samtweberei auch in einzelnen Gegenden des deutſchen Vaterlandes einführten, da fanden ſie auf den Leipziger Meſſen die beſte Gelegenheit, ihre Stoffe an den Mann zu bringen.

Napoleon I. ſchadete mit der Kontinentalſperre dem Leipziger Handel ganz bedeutend. Als er hier Nachſuchungen nach engliſchen Waren halten ließ, fand

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man davon ſo viele, daß durch deren Vernichtung bedeutende Summen verloren wurden und eine Teuerung eintrat.

Den größten Aufſchwung nahm Leipzig in der neueſten Zeit durch die Eiſenbahnen. Im Jahre 1836 wurde der Grund gelegt zur erſten großen

Die Markthalle in Leipzig. Die Markthalle in Leipzig.

Eiſenbahn Deutſchlands, zu der Leipzig-Dresdner Bahn, und bereits am 7. April 1839 konnte man den erſten Zug von Leipzig nach Dresden ablaſſen. Bald entſtanden noch andere Bahnen, ſo im Jahre 1840 die nach Halle, 1842 die nach Altenburg, 1856 die nach Thüringen, 1859 die nach Berlin u. ſ. w. Heute beſitzt Leipzig 6 Hauptbahnhöfe, von denen Schienenwege nach allen he­

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deutenden Städten Deutſchlands ausgehen, dazu noch 6 kleinere Bahnhöfe und Halteſtellen.

Auch der mehr örtliche Handelsverkehr iſt durch die günſtigen Eiſenbahn­ verhältniſſe nicht unweſentlich gefördert worden. Bis vor kurzem befand ſich ein Teil des Warenmarktes, namentlich für den Kleinhandel, unter freiem Himmel. Tragbare Verkaufsſtände, Wagen, hölzerne Buden bedeckten faſt täglich die Plätze und zuweilen auch einzelne Straßen der Stadt. Neuerdings iſt dieſer „fliegende Handel“ ſehr beſchränkt worden, und es iſt für ſolche Händler, die Lebensmittel aller Art, beſonders auch Fleiſch und Fiſche oder Landesprodukte und Waren für den unmittelbaren Hausbedarf verkaufen, eine große, auch äußerlich ſchön aus­ geſtattete Markthalle vorhanden, die nach dem Urteile Sachverſtändiger zu den beſteingerichteten der Gegenwart gehört.

Die neue Börſe in Leipzig. Die neue Börſe in Leipzig.

Um für den Leipziger Handel auch eine Waſſerſtraße zu ſchaffen, iſt bereits vor Jahrzehnten der Bau eines Kanals begonnen worden, der von der Elſter nach der Saale führen und ſo die beiden größten Handelsplätze Deutſchlands, Hamburg und Leipzig, durch Schiffahrt verbinden ſoll. Ob er noch vollendet wird, iſt zweifelhaft; jetzt taucht der Plan auf, einen Kanal von Leipzig nach Rieſa zu bauen, um die Handelsgüter auf dem billigen Waſſerwege beziehen zu können.

Von der Bedeutung Leipzigs als Handelsplatz bekommt man erſt einen rechten Begriff, wenn man einmal mittags zwiſchen 12 Und 1 Uhr die Handelsbörſe beſucht und das geſchäftige Treiben der vielen Hunderte von Kaufleuten beobachtet, die hier Angebot und Nachfrage regeln, oder wenn man bedenkt, daß allein die Allgemeine Deutſche Kreditanſtalt, eins der vielen großen Leipziger Bankhäuſer, jährlich einen Umſatz von 3 Milliarden hat. Erwägt man ferner, daß die Reichs­ bank und die Sächſiſche Bank hier große Zweiganſtalten beſitzen, daß noch andere Bankinſtitute, wie die Leipziger Bank, die Kredit– und Sparbank, mehrere Ge­

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noſſenſchaftsbanken, Sparkaſſen u.ſ.w. hier beſtehen, daß bedeutende Aktiengeſell­ ſchaften und weltbekannte Handelsfirmen hier ihren Sitz haben, ſo kann man wohl kühn behaupten, daß in Leipzig ſo viel Geld umgeſetzt wird wie in wenig anderen Städten des Kontinents.

Gewiß mit Recht wird die Stadt Leipzig zuweilen das ſächſiſche Liverpool genannt.

42.3. 3. Ein Blick auf das neue Leipzig.

In früheren Jahrhunderten war Leipzig, wie faſt alle übrigen Städte, mit hohen Feſtungsmauern und tiefen Wallgräben umgeben, wodurch die Aus­ dehnung der eigentlichen Stadt auf einen beſtimmten engen Kreis beſchränkt wurde. Das Stadtinnere Leipzigs giebt noch heute ein deutliches Bild davon, wie man in jenen Zeiten mit dem Raume geizen mußte. Enge Straßen, verbaute, winkelige Höfe, wohin Luft und Licht nur ſpärlich dringen, ſchmale Treppen und kleine, niedrige Wohnräume, oft ohne alle Vorſäle, charakteriſieren den eigentlichen Stadt­ kern noch immer, wiewohl die beſſeren baulichen Grundſätze der Neuzeit auch hier ſchon ſichtlich Abhilfe geſchafft haben.

Zu Anfang dieſes Jahrhunderts fielen die Mauern der Stadt, und Wälle und Gräben wurden eingeebnet; die Abgeſchloſſenheit, in der die Bewohner der innern Stadt bis dahin zu leben gezwungen waren, ward damit beſeitigt. Der erſte Schritt zur Verſchönerung der Stadt wurde durch Anlegung von Prome­ naden auf dem Boden der eingeebneten Wälle gethan, und es entſtand zugleich eine Reihe von Plätzen, von denen der Auguſtusplatz, Roßplatz, Königsplatz, Theaterplatz und Fleiſcherplatz die bekannteſten ſind. Das Stadtinnere hatte bis­ her nur einen großen Platz aufzuweiſen, den Markt.

Schon vor dieſer Zeit waren außerhalb der eigentlichen Stadt, über dem Walle draußen oder, wie man zu ſagen pflegte, „vor den Thoren“ zahlreiche Bauten zu Wohn- und Gewerbszwecken aufgeführt worden, welche die ſoge­ nannten Vorſtädte bildeten und ſich wie ein Ring um das Stadtinnere herum­ legten. Dieſe Vorſtädte wurden nun durch die Beſeitigung der Mauern mit dem Stadtkerne vereinigt, und ſo vollzog ſich die erſte Erweiterung Leipzigs nach dem Landgebiete hin. In den 40er Jahren entwickelte ſich in dieſen Vorſtädten eine große Bauthätigkeit; die zahlreichen Nutz- und Ziergärten waren bald in Straßen und Häuſervierecke umgewandelt; freundliche Landhäuſer wurden von den wohl­ habenden Bewohnern der Stadt daſelbſt errichtet, und das neue Leipzig ent­ ſtand: Leipzig erlangte ein großſtädtiſches Gepräge.

Die Einwohnerzahl der Stadt wuchs zuſehends. Während Leipzig noch in den 30er Jahren eine Bevölkerung von nur 40000 aufzuweiſen hatte, über­ ſchritt es um die Mitte des Jahrhunderts ſchon die 100000; die Bevölkerungs­ zunahme ſetzte ſich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt fort und ſtieg in den 80er Jahren bis auf ziemlich 200000. Die Häuſer der äußerſten Straßen reichten bereits den erſten Häuſern der ländlichen Vororte ſchweſterlich die Hand, und die Zeit war nahe herangekommen, wo jede weitere Ausdehnung unmöglich und jedes weitere Wachs­ tum der Stadt dadurch faſt ausgeſchloſſen war. Dieſe und manche andere

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Erwägung ließen den Plan reifen, die nächſtgelegenen ländlichen Vororte in das Stadtgebiet mit aufzunehmen, und ſo erfolgte im Laufe der Jahre 1890 und 1891 die Einverleibung von 17 Dörfern mit zuſammen über 160000 Einwohnern. Leipzig iſt mit dieſer Einverleibung Großſtadt im vollſten Sinne des Wortes ge­ worden; es zählt gegenwärtig über 420000 Einwohner und iſt nicht nur die größte Stadt Sachſens, ſondern der Einwohnerzahl nach auch die dritte Stadt des Deutſchen Reiches geworden.

Aber nicht allein die äußere Ausdehnung und die zahlreiche Bevölkerung, ſondern auch ſein wahrhaft großſtädtiſches Leben und die eifrige Pflege von Kunſt und Wiſſenſchaft zeichnen Leipzig vor vielen andern Städten Deutſchlands aus.

Die Peterskirche in Leipzig. Die Peterskirche in Leipzig.

Wenn man das rege Trei­ ben, das der Handel und Wan­ del auch außerhalb der Meſſen auf den Straßen der Stadt, in den Tauſenden von Geſchäften und Niederlagen und auf den Bahnhöfen hervorruft, überblickt, ſo bekommt man annähernd einen Begriff von der Bedeutung des Leipziger Kaufmannsſtandes und von ſeinem großen Anſehen in der Handelswelt; mehr aber noch, wenn man dazu auch ſeine finan­ zielle Leiſtungsfähigkeit, ſeinen Unternehmungsgeiſt und ſeine kluge, umſichtige Geſchäftsführung in Betracht zieht.

Mit dieſen Eigenſchaften verbindet ſich noch eine andere, die auf die Entwickelung Leipzigs ganz weſentlich eingewirkt hat. Der Leipziger Großkaufmann iſt reich und dabei meiſt kunſtliebend und kunſtverſtändig, infolgedeſſen iſt Leipzig aus eigner Kraft auch eine Kunſtſtadt geworden. Millionen über Millionen ſind zu dieſem Zwecke der Stadt durch Schenkungen zugefloſſen. Der Leipziger liebt ſeine Vaterſtadt; ihr Ruhm iſt ſein Ruhm, und ſo iſt es gekommen, daß verhältnismäßig viele reiche Einwohner die Stadt zur Voll- oder Teilerbin ihres Vermögens eingeſetzt haben, damit ſie Anſtalten zur Pflege der Kunſt und der Menfchenliebe mit den empfan­ genen Mitteln gründe. Die Graſſi-, die Tauchnitz- und die Rhodeſtiftung ſind Denk­ mäler ſolchen Gemeinſinnes von Leipziger Bürgern; aber ſie ſind nicht die einzigen.

Für Verſchönerung und künſtleriſche Ausſtattung der Stadt hat Leipzig in den letzten Jahrzehnten eifrig geſorgt. Von den zahlreichen prachtvollen Privat­

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bauten mag hier abgeſehen werden, und von den öffentlichen Gebäuden, die zu den Zierden der Stadt gehören, können auch nur einige Erwähnung finden.

Unter den Kirchen gebührt der neuen Peterskirche wegen ihrer Großartig­ keit und Schönheit offenbar der erſte Rang. Der Name erinnert an ein altes Gotteshaus, das ſchon im 13. Jahrhundert in Leipzig beſtand; aber nur der Name, nichts weiter, iſt von dieſem Bauwerke noch vorhanden. Die neue Peters­ kirche ſteht auf einem ganz anderen Platze und iſt in ihrem Äußern ihrer Ur­ ſchweſter nicht im geringſten ähnlich. Sie ward mit einem Aufwande von unge­ fähr einer Million Mark während des letzten Jahrzehnts in gotiſchem Stile auf­ gebaut und gilt für eins der reichſten gotiſchen Bauwerke des proteſtantiſchen Deutſchlands.

Eine beſondere Erwähnung verdient auch das neue Konzerthaus. Leipzig hat ſchon ſeit ſehr langer Zeit vorzugsweiſe klaſſiſche Muſik gepflegt, und tüchtige

Das neue Konzerthaus in Leipzig. Das neue Konzerthaus in Leipzig.

Tonkünſtler waren in Leipzigs Mauern immer gern geſehene Gäſte. Das Muſik­ konſervatorium diente zur Ausbildung derartiger künſtleriſcher Kräfte; vielfach aber kamen ſie auch aus der Ferne herzu, um ſich in Leipzig hören zu laſſen. Die muſikaliſchen Aufführungen haben ſich als „Gewandhauskonzerte“, einen Weltruf erworben; ſie wurden von 1781 bis 1881 in einem von dem berühmten Baumeiſter Dauthe in das alte Gewandhaus eingebauten Saale gegeben. Dieſer war mit einem geringen Koſtenumfange hergeſtellt worden, hat aber wegen ſeiner Bauart Weltberühmtheit erlangt, weil er eine Klangwirkung hervorbrachte, wie ſie nur wenige Konzertſäle aufweiſen können. Die dort abgehaltenen, Konzerte wurden von den berühmteſten Künſtlern geleitet, ſo von Mendelsſohn, Hiller, Schicht u. a. Als ſich im Jahre 1881 der Gewandhausſaal als zu klein er­ wies, wurde durch kunſtliebende Bürger ein neues Konzerthaus errichtet, das im Jahre 1881 eingeweiht wurde und an Schönheit und Zweckmäßſigkeit der Ein­

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richtung ſeinesgleichen ſucht. An der Stelle des alten Gewandhauſes ſteht jetzt das neue Kaufhaus.

Muſeum und Theater ſind ebenfalls Bauten von großer Schönheit und ein Stolz der Leipziger. Beide ſind Werke aus eigener Kraft und Kunſttempel

Der Mendebrunnen auf dem Auguſtusplatze in Leipzig. Der Mendebrunnen auf dem Auguſtusplatze in Leipzig.

erſten Ranges, die den gleichartigen Anſtalten in anderen deutſchen Großſtädten durchaus nicht nachſtehen.

Die meiſten baulichen Schönheiten findet man am Auguſtusplatze. Dieſer hat in den letzten Jahren noch eine beſondere Zierde erhalten, nämlich den zum

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Andenken an die Frau verwitwete Mende errichteten Mendebrunnen, der neben dem Siegesdenkmale auf dem Marktplatze zu dem Großartigſten gehört, was Leipzig an Denkmälern aufzuweiſen hat.

Außer der Kunſt hat die Wiſſenſchaft in Leipzig eine Heimat. Mit der Gründung der Univerſität zog ſie ein in die Mauern der Stadt, und ſeit dieſer Zeit hat ſie immer mehr Boden gewonnen. Bleiben wir zunächſt bei der Uni­ verſität ſtehen. Wie haben ſich die akademiſchen Lehrgebäude ausgedehnt! Pracht­ volle Häuſer, beſonders für die mediziniſche Fakultät, ſind nahe dem Johannis­ thale erſtanden, und im Weſtviertel erhebt ſich ſeit kurzem ein ſtolzer Bau, der die Univerſitätsbibliothek in ſich birgt. Der ältere, im Stadtinnern gelegene Teil der Univerſität, iſt nunmehr in ſchöner und zweckentſprechender Weiſe erneuert. Iſt nun die Sorge für die Univerſität auch nicht gerade die Aufgabe der Stadt Leipzig, ſondern die der ſächſiſchen Staatsregierung, ſo iſt doch aus verſchiedenen Beiſpielen nachzuweiſen, daß auch die Stadt ſich ihrer Pflichten gegen die Hochſchule und die mit ihr verbundenen Anſtalten wohl bewußt iſt.

In vollſtem Maße wird die Fürſorge der Stadt den Schulen zu teil, ſo daß man Leipzig oft auch die Schulſtadt genannt hat. Es ſind außer den zahl­ reichen Volksſchulen (18 Bürger- und 28 Bezirksſchulen) vorhanden: 3 Gymnaſien (darunter die aus der alten katholiſchen Zeit ſtammende Thomas- und Nikolai­ ſchule), 1 Realgymnaſium, 3 Realſchulen, 1 höhere Töchterſchule, 1 Gewerbeſchule, 1 Kunſtakademie, 1 Konſervatorium für Muſik, 1 Bauſchule, 1 Handelslehranſtalt und verſchiedene Arten von Fach- und Privatſchulen. Allen ſind große, zweck­ mäßig eingerichtete, oft auch architektoniſch ſchöne Gebäude angewieſen. Wenn die Stadtgemeinde jetzt jährlich für ihre Schulen über 3½ Millionen Mark auf­ wendet, ſo weiß ſie, daß ſie dadurch den Grund legt für ihre fernere Wohlfahrt.

Neben den genannten Anſtalten für Kunſt, Wiſſenſchaft und Bildung beher­ bergt Leipzig in ſeinen Mauern ſeit dem Jahre 1879 noch das oberſte Reichs­ gericht, wofür ein palaſtähnliches, an vier Straßen gelegenes, 126 Meter langes und 76 Meter breites, mit einer 68 Meter hohen Kuppel verſehenes Gebäude errichtet worden iſt. Auch dieſes Inſtitut hat das Anſehen der Stadt bedeutend gehoben.

Selten wird es eine Stadt geben, die mit dem, was die Entwickelung zur Weltſtadt begünſtigt, ſo reichlich verſehen iſt wie Leipzig; doch muß man auch zugeben, daß ein ſtrebfamer, kräftiger und ſolider Bürgerſtand dafür geſorgt hat, daß niemals ein Stillſtand oder Rückſchritt eingetreten iſt. Was Goethe, der als Student hier lebte, von Leipzig ſagt, kann auch noch heute als Wahlſpruch der Leipziger gelten: „Mein Leipzig lob ich mir; es iſt ein klein Paris und bildet ſeine Leute.“ H.Arnold.

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