Kapitel 41. Aus dem Leben des Philoſophen Fichte.

An der Straße, die von Biſchofswerda nach Kamenz führt, entrückt dem mächtig dahinflutenden Getriebe der Jetztzeit, liegt das ſtille Dorf Rammenau. Daſelbſt wurde am 19. Mai 1762 Fichte als Sohn eines Bandwebers geboren, welcher in der am felbigen Tage erfolgten Taufe die Namen Johann Gottlieb erhielt. Es wird erzählt, daß ein alter Oheim der Mutter die künftige Größe des Kindes in einem Gebete geweisſagt habe. Kurze Zeit darauf ſei der Greis geſtorben.

Des jungen Gottlieb Vater machte ſich einige Jahre nach der Geburt ſeines erſten Sohnes anſäſſig, indem er ſich ein Haus baute. Dem Erſtgeborenen folgten noch neun Geſchwiſter, ſieben Brüder und zwei Schweſtern. Gottfried war ein ſtiller, ſinnender Knabe, der ſich von den andern Kindern des Dorfes meiſt abſon­ derte und an ihrem Spiel und Treiben wenig Anteil nahm. Das Liebſte war ihm, wenn er ſich, ſelbſt überlaſſen, auf dem Felde in Gottes freier Natur ſeinen Gedanken nachhängen und mit ſeinen ſo ernſt blickenden Augen zum blauen Himmel

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aufſchauen konnte. Unter ſeines Vaters Leitung lernte er ſchnell Lieder und Sprüche, ſo daß er bald das Amt bekam, nach alter Sitte den Morgen- und Abendſegen vorzuleſen. In dieſen Stunden entſtand im Herzen der frommen Mutter der Wunſch, den Sohn einſt auf der Kanzel der Dorfkirche zu ſehen und zu hören.

Einſt hatte der Vater dem Knaben die Sage vom gehörnten Siegfried aus der Stadt mitgebracht. Der Kleine wurde von derſelben ſo eingenommen, daß er bald alles andere darüber vergaß. Da er ſich deshalb eine ernſte Beſtrafung zuzog, beſchloß er, das Buch in den vorüberfließenden Dorfbach zu werfen. Als er ſein geliebtes Buch fortſchwimmen ſah, weinte er bitterlich. Nachher geſtand er dem Vater, was, aber nicht, warum er es gethan hatte, und ſo traf ihn denn eine neue empfindliche Strafe. Die Eigenart des Kindes fiel auch dem Ortspfarrer Wagner auf, beſonders ſeine Begabung, gehörte Predigten nach Gedankengang und Hauptſätzen wiedergeben zu können. Nun kam einmal Freiherr von Miltitz, der Schwager des Gutsherrn, zum Beſuch und hätte gern die Predigt gehört. Er war jedoch daran verhindert, und als er ſeinen Unmut darüber äußerte, erzählte man ihm von dem Knaben Fichte, der im ſtande ſei, die ganze gehörte Predigt treu wiederzugeben. Man ließ den Knaben holen, und der Kleine kam in ſeinem einfachen Anzuge mit einem Strauß in der Hand. Lebendig und friſch floß ſeine Rede, bis der Gutsherr ihn unterbrach. Freiherr von Miltitz war aufs höchſte verwundert. Er beſchloß, für des Knaben Erziehung und Ausbildung zu ſorgen und gab den Eltern diesbezügliche Ratſchläge. Die Entſcheidung war ſchwer; endlich aber konnte der Gönner ſeinen Schützling mitnehmen.

In eine ganz neue Welt trat jetzt der Neunjährige ein. Das den ritterlichen Charakter der früheren Zeit noch an ſich tragende Schloß Oberau bei Meißen, wohin der Freiherr ſeinen Schützling brachte, wie die düſteren Eichenwaldungen, die es umgaben, der neue Umgang und die ungewohnten Verhältniſſe des Schloß- lebens erweckten in dem Knaben ein unbeſchreibliches Heimweh, welches ſich derart ſteigerte, daß der Freiherr die Geſundheit des Knaben gefährdet glaubte. Er gab ihn hierauf in die Obhut und Erziehung des Pfarrers Krebel in Niederau, und hier verlebte der Knabe die ſchönſten Jahre ſeiner Jugend. Im 13. Lebens­ jahre kam er nach Pforta bei Naumburg auf die Fürſtenſchule. Hier begann für ihn eine ſchwere Prüfungszeit. Als jüngerer Schüler wurde er einem älteren anvertraut, mit dem er eine Zelle bewohnte. Er mußte für dieſen allerlei niedere Dienſte verrichten, während jener ihn bei den Schularbeiten unterſtützte. Sein Zellengenoſſe war aber keineswegs freundlich gegen ihn und ließ ihn öfter ſeine Macht fühlen. Einſt fand ein Lehrer den kleinen Gottlieb damit beſchäftigt, bald mit der linken, bald mit der rechten Hand ein vor ihm auf dem Tiſche ſtehendes Buch herunterzuwerfen. Befragt, was er mache, antwortete er, er übe ſich im Ohrfeigengeben, damit er es ſpäter ebenſogut könne wie ſein jetziger Obergeſell.

Dazu kam noch eins, was ſeinen Aufenthalt in Pforta beſchwerlich machte — die Armut. Sein Wohlthäter Miltitz war auf einer Reiſe geſtorben, und die Erben verweigerten die Verabfolgung der dem Knaben zugedachten Unterſtützung. So ſtand er allein. Die Eltern waren weit entfernt und dazu auch arm, ſo daß

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er Unterſtützung nicht erwarten konnte. Dieſen mißlichen Verhältniſſen wollte er ſich durch die Flucht entziehen. Gelegentlich eines Spazierganges ward der Gedanke zur That. Auf einer Landkarte hatte er ſich den Weg nach Hamburg auſgeſucht; dort wollte er dann zu Schiffe gehen. Unterwegs aber dachte er an das Wort, daß man jedes Werk mit Gebet beginnen müſſe, und er ſank zum Gebet auf ſeine Kniee. Da ſchlug ihm das Gewiſſen. Er kehrte um. In der Schule hatte man ihn vermißt. Ausgeſchickte fanden den Heimkehrenden und führten ihn vor den Rektor. Ihm geſtand er freimütig und offenherzig alles, was ihn fortgeführt und was ihn zurückgebracht hatte. Er wurde nicht beſtraft, ſondern der Rektor nahm ſich ſeiner nunmehr ſehr warm an.

Nach wohl beſtandener Prüfung verließ er 1780 die Schule, um die Uni­ verſität zu Jena zu beziehen. Später ſiedelte er nach Leipzig über, weil er glaubte, daſelbſt ſich durch Privatunterricht beſſer forthelfen zu können. 1784 hatte er ſeine Studien beendet und begab ſich zu den Eltern zurück. In dieſer Zeit beſtieg er als Prediger die Kanzel ſeines Heimatsortes. Während der nächſten Jahre war er Hauslehrer, bald hier, bald da; er predigte an verſchiedenen Orten und war auch ſchriftſtelleriſch thätig. 1788 finden wir ihn in Zürich, wo er ſeine nachmalige Gattin kennen lernte, 1790 in Leipzig und 1791 in Warſchau und Königsberg, an letzterem Orte, um dem großen Philoſophen Kant näher zu treten. Am 22. Oktober 1793 wurde er in Baden bei Zürich getraut, und damit endete ſein wechſelvolles Jugendleben.

Bald nach ſeiner Hochzeit erging an ihn der Ruf, eine Profeſſur der Welt­ weisheit in Jena zu übernehmen. Freilich wurden nur 200 Thaler Gehalt ge­ boten. Aber er folgte dem Rufe, ging zu Oſtern 1794 dahin, wo er einſt junger Student geweſen war, und trat von dort aus mit Goethe und Schiller in Verbindung. Seine Lehrthätigkeit erwarb ihm bald Achtung und Anerkennung. Als er aber gegen die Roheiten der Studenten anzukämpfen begann, wurde ein Teil der Hörerſchaft gegen ihn aufgebracht. Man warf ihm ſogar die Fenſter ein, und er blieb über ein halbes Jahr von Jena fern. Dazu geſellte ſich noch ein Zwiſt mit der Regierung. Ein von ihm verfaßter Aufſatz: „Über den Grund unſeres Glaubens an eine göttliche Weltordnung“ hatte die Anklage wegen Gottesleugnung und ſpäter auch die Amtsentlaſſung zur Folge. In Jena konnte er nun nicht bleiben. In Rudolſtadt, wo er ſich niederlaſſen wollte, wurde ihm der Aufenthalt von der ſchwarzburgiſchen Regierung nicht geſtattet. Da ging er nach Berlin. Mittwoch langte er daſelbſt an, Freitag früh ſchon erſchien ein Polizeiinſpektor bei dem gefährlichen Denker, Demokraten und Gottesleugner, um ihn wegen ſeiner Anſichten zu befragen. Der junge König Friedrich Wilhelm III. geſtattete ihm hierauf den Aufenthalt in ſeinem Staate. Fichte blieb in Berlin und ließ ſpäter ſeine Familie von Jena aus nachkommen. Er war zwar ohne Stellung, ſammelte aber bald einen Kreis von denkenden Männern, Beamten, Künſtlern, Gelehrten und ſogar Miniſtern um ſich, vor denen er Vorträge hielt. Selbſt der bekannte Fürſt Metternich war regelmäßiger Zuhörer. Er ſetzte ſich hierdurch bei ſeinen Mitbürgern und bei der Regierung in begründetes Anſehen.

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im Jahre 1804 gingen mancherlei Anerbietungen ein: Rußland, ſowie Bayern wollten ihn gegen hohen Gehalt gewinnen. Er aber nahm eine Profeſſur an der damals preußiſchen Univerſität Erlangen an, die er jedoch nur ein halbes Jahr verwaltete, da Deutſchland in Krieg verwickelt wurde. In dieſe Zeit fällt die Umwandlung der religiöſen Anſichten Fichtes. Eine kleine Erzählung aus Rankes Jugenderinnerungen möge beweiſen, wie lieb ihm das Johannes­ evangelium war. Ein junger Theolog klagte einſt bei Fichte, daß er gar vieles in ſeinen Schriften nicht verftehe. Da legte Fichte ſeine Hand auf das auf­ geſchlagene Evangelium Johannis und ſagte: „Leſen Sie dieſes, darin finden Sie alles, was ich denke; daran halten Sie ſich!“ Fichte kehrte aus Erlangen nach Berlin zurück. Nachdem in der Schlacht bei Auſterlitz die Öſterreicher und Ruſſen den Franzoſen erlegen waren, ſetzte er gleich tauſend anderen ſeine ganze Hoffnung auf Preußens Heer. Gern wollte er ſelbſt am Kampfe teilnehmen. An maßgebender Stelle lehnte man jedoch ſein Anerbieten ab. Bald darauf kam die Botſchaft von der furchtbaren Niederlage bei Jena. Da Fichte in den Franzoſen nicht nur die Feinde des Vaterlandes, ſondern auch ſeine eigenen er­ blickte, verließ er, um ſich ihnen zu entziehen, Berlin und ging nach Königs­ berg. Als ſich die politiſchen Verhältniſſe noch mehr verſchlimmerten, floh er drei Tage vor dem Einmarſch der Franzoſen von da über Memel nach Kopen­ hagen.

Nachdem der Friede zu Tilſit 1807 geſchloſſen war, kehrte Fichte nach Berlin zurück und wohnte in einem ſtillen Gartenhauſe. Hier verfaßte er im Winter 1807 bis 1808 jene ſo berühmt gewordenen Reden an die deutſche Nation, die er Sonntags von 12 bis 1 Uhr im Akademiegebäude vor einer großen Zu­ hörerſchaft hielt. Dieſe Reden, welche die Begeiſterung des Jahres 1813 vor­ bereiteten, waren eine kühne That und ein nicht geringes Wagnis. Mehrmals ging das Gerücht, Fichte ſei verhaftet worden. Aber die Franzoſen ſahen in Fichte mehr einen Schwätzer und glaubten, es ſei am klügſten, ihn nicht zu beachten; den weitgehenden Einfluß dieſer Reden verkannten ſie ganz und gar. In jene Zeit fällt auch die Begründung der Berliner Univerſität, für die Fichte im Auftrage der Regierung den erſten Plan entwarf.

Inzwiſchen war das ereignisvolle Jahr 1813 herangekommen. Der Sturm brach los, das Volk ſtand auf! Fichte erbot ſich, das königliche Hauptquartier als Redner zu begleiten. Als dieſes Anerbieten abgelehnt ward, ließ er ſich in den Landſturm einreihen. Mit hoher Begeiſterung verfolgte er den Lauf des Krieges. Doch nur zu bald ſollte er ein Opfer desſelben werden. Fichtes Gattin hatte ſich durch die Pflege verwundeter Krieger das Lazarettfieber zugezogen, ſo daß ſie längere Zeit dem Tode nahe war. Als ſich nun der Gatte in Liebe über die wiedergeneſende Gattin beugte, ſog er ſelbſt das Gift der Krankheit ein. Sie ward geſund; er aber erkrankte und zwar ſo heftig, daß alle Hoffnung ſchwand, ihn am Leben zu erhalten. Am 27. Januar 1814 früh 5 Uhr ſtarb er im Alter von noch nicht 52 Jahren. Seine letzten Worte waren: „Ich fühle, daß ich geneſen bin!“ Seine Ruheſtätte fand er auf dem alten Dorotheenſtädter Kirchhofe vor dem Oranienburger Thor zu Berlin. Das eiſerne Grabdenkmal

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mit Fichtes Bild trägt die Inſchrift: „Die Lehrer werden leuchten wie des Him­ mels Glanz und die, ſo viele zur Gerechtigkeit weiſen, wie die Sterne immer und ewiglich.“

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