Kapitel 40. Aus Leſſings Jugendzeit.

Unter den freundlichen Städten der Oberlauſitz nimmt Kamenz, am linken Ufer der Schwarzen Elſter und am Fuße des Hutbergs gar anmutig gelegen, keineswegs die geringſte Stelle ein. Nicht genug, daß genannter Ort eine der älteſten Anſiedelungen iſt und ſeine Geſchichte bis ins 7. Jahrhundert zurück­ reicht; nicht genug, daß ſeine gegenwärtigen Bewohner — er zählt deren über 7000 — gar gewerbfleißig und durch ihre Topfwaren, Tuche und dergleichen weithin bekannt ſind: nein, er weiß auch auf anderem Gebiete mitzureden. Innerhalb ſeiner Mauern ſtand die Wiege eines der größten Denker und Dichter des deutſchen Volkes, eines Mannes, deſſen Namen ruhmvoll neben denen eines Goethe und Schiller ſteht: er heißt Leſſing. Es ſei an dieſer Stelle nur ſeiner Jugendzeit gedacht, die er in Kamenz, ſpäter in Meißen und Leipzig verlebte.

Gotthold Ephraim Leſſing, geboren am 22. Januar 1729 zu Kamenz in der Lauſitz, ſtummte aus ehrenwerter Familie; ſeine Vorfahren laſſen ſich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Einer derſelben, Klemens Leſſingk,

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Pfarrer im ſächſiſchen Erzgebirge, unterſchrieb im Jahre 1580 die Konkordien­ formel mit. Die Nachkommen desſelben gehörten ebenfalls meiſt dem geiſtlichen oder dem Stande der Rechtsgelehrten an. Erwähnenswert iſt der Großvater des Dichters, Theophilus Leſſing, der vierundzwanzig Jahre lang Bürgermeiſter von Kamenz war und 1728 daſelbſt ſtarb. Deſſen Sohn, Johann Friedrich Leſſing, auf der Univerſität Wittenberg gebildet, war Pfarrer in Kamenz geworden. Dieſer war der Vater unſers Dichters, ein Mann von ſtrenger, chriſtlicher Frömmigkeit, ein tüchtiger Kenner der Kirchen-, insbeſondere der Reformationsgeſchichte, dazu ein fleißiger theologiſcher Schriftſteller. Des Pfarr­ herrn Gattin, Juſtine Salome geb. Feller, die Tochter des Paſtor primarius von

Gotthold Ephraim Leſſing. Gotthold Ephraim Leſſing.

Kamenz, in deſſen Stelle Leſſing einrückte, war eine vortreffliche Hausfrau und ſorgſame Mutter.

Im Pfarrhauſe, das leider infolge eines großen Brandes im Jahre 1842 von der Erde verſchwunden iſt, herrſchte ein frommer, menſchenfreundlicher Geiſt. Der kleine Gotthold Ephraim wurde frühzeitig, ſobald er nur die erſten Worte ſtammeln konnte, zum Beten angehalten und erhielt den erſten Unterricht von ſeinem Vater, der mit ihm Bibel und Katechismus las. Die geiſtlichen Lieder, die in die Morgen- und Abendandacht verwebt wurden, prägten ſich raſch ſeinem Gedächtniſſe ein, und bald – ja, ſchon ehe er leſen konnte — entwickelte ſich in dem geiſtig lebhaften Knaben eine ausgeſprochene Vorliebe für Bücher. Als er fünf Jahre alt war, wollten ihn die Eltern von einem Raffael der Oberlauſitz

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malen laſſen. Der Maler gedachte dem Knaben einen Käfig mit einem Vogel in die Hand zu geben; aber Gotthold rief entſchloſſen: „Mit einem großen, großen Haufen Bücher müſſen Sie mich malen, oder ich will gar nicht gemalt ſein!“ Das Bild, gegenwärtig im Barmherzigkeitsſtifte zu Kamenz aufbewahrt, zeigt rechts den jungen Gotthold unter aufgehäuften Büchern ſitzend, links ſeinen jüngeren Bruder Theophilus, der ein Lämmchen füttert.

Die Verhältniſſe geſtatteten es dem Vater, ſeinem Sohne auf einige Zeit einen Hauslehrer zu halten; er hieß Mylius. Von ſeinem achten Lebensjahre ab beſuchte der Knabe die Stadtſchule von Kamenz, die unter dem jungen, kräftigen Rektor Heinitz eben im Aufblühen begriffen war.

Anſicht von Kamenz. Anſicht von Kamenz.

1741 trat der begabte Knabe, noch nicht dreizehn Jahre alt, in die berühmte Fürſtenſchule zu St. Afra in Meißen ein, wo ihm Oberſtlieutenant von Carlo­ witz eine Freiſtelle ausgewirkt hatte. Die Schule, aus dem früheren Kloſter der heiligen Afra entſtanden, hatte die alte klöſterliche Zucht beibehalten. In vier Tabulaten befanden ſich zweiundfünfzig Zellen, deren jede aus einer Studier­ ſtube und einer Schlafkammer beſtand. In jeder befanden ein Primaner als Obergeſell, ein Sekundaner als Untergeſell und mehrere Tertianer oder Quar­ taner, die von den erſteren beaufſichtigt und unterrichtet wurden. Die Schüler trugen ſogenannte Schalaunen, kurze Schülermäntel ohne Ärmel. Andachtsübungen und Latein nahmen den größten Teil der Stunden in Anſpruch. Für den jungen, ſcharfdenkenden Leſſing hatte die Mathematik mit ihrer Klarheit beſondere An­ ziehungskraft. Seine Freizeit widmete er dem Studium einiger Lieblingsfächer, be­

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ſonders dem Leſen griechiſcher und römiſcher Schriftſteller und den neueren Dichtern, namentlich Hagedorn, Gleim und Haller. Bei ſeinen bedeutenden Anlagen ent­ wickelte er ſich raſch und kam ſchneller vorwärts als ſeine Mitſchüler. „Er iſt ein Pferd, das doppeltes Futter haben muß. Die Lektiones, die anderen zu ſchwer werden, ſind ihm kinderleicht. Wir können ihn faſt nicht mehr brauchen!“ ſagte der Rektor Grabner einſt von ihm. Von ſeinen Charaktereigentümlich­ keiten traten in dieſer Zeit bereits ſein Freimut und ſeine Wahrheitsliebe ſtark hervor. So bemerkte einer ſeiner Inſpektoren einmal von ihm: „Ein guter Knabe, aber etwas mokant.“ Von ſeiner Wahrheitsliebe giebt folgendes beredtes Zeug­ nis. Als er bereits einer der oberſten Schüler war und ein Teil ſeiner Mit­ ſchüler unter ſeiner Aufſicht ſtand, war in der Woche, in welcher der Konrektor die Schulinſpektion zu führen hatte, die Morgenandacht immer etwas zu ſpät ab­ gehalten worden. Rektor Grabner fragte eines Tages nach der Urſache der Verſpätung. Alles ſchwieg. Da trat plötzlich Leſſing hervor und entgegnete kaltblütig: „Der Herr Konrektor kommt nicht gleich mit dem Schlage; daher denkt jeder, das Gebet gehe nicht ſogleich an!“ Der Konrektor war über dieſe Kühnheit dermaßen erſtaunt, daß er ausrief: „Admirabler Leſſing!“ Seitdem be­ hielt Leſſing bei ſeinen Mitſchülern dieſen Namen, bei dem Konrektor aber, der ihm das nicht vergeſſen konnte, eine ſchwarze Nummer. Als Leſſings zweiter Bruder ſpäter in dieſelbe Anſtalt eintrat, begrüßte ihn der gereizte Schulmann mit den Worten: „Sei fleißig, aber nicht ſo naſeweis wie dein Bruder!“

In ſeinem vierzehnten Jahre ſchrieb Leſſing ſeinem Vater zum Neujahr eine Glückwunſchrede über das Thema: Von der Gleichheit eines Jahres mit dem andern. In dieſer Arbeit kündete ſich bereits die ſpäter ſcharf ausgeprägte Richtung ſeines Geiſtes an. Er ſagt in derſelben: Sowie ein Jahr, mathematiſch betrachtet, dem andern vollkommen gleich iſt, ſo auch im ganzen, phyſiſch und moraliſch betrachtet; die Sage von der goldnen Zeit, ſowie die Klage über die Verſchlimmerung der Welt iſt zu verwerfen; ſagenhafte Berichte von der Vorzeit ſind nach den Verhältniſſen der Gegenwart zu prüfen; denn die heutigen Be­ wohner der Welt befinden ſich in denſelben Umſtänden wie ihre erſten Väter; ſie haben eben die Mängel und Vollkommenheiten, eben die Wege zur Glückſeligkeit und zum Verderben wie jene erſten Beſitzer der Erde.

Der junge Fürſtenſchüler machte auch bereits Verſuche auf poetiſchem Gebiete. Angeregt durch die römiſchen Luſtſpieldichter Terenz und Plautus, ent­ warf er den Plan zu ſeinem erſten Luſtſpiele „Der junge Gelehrte“, das er ſpäter völlig aus- und teilweiſe umarbeitete; das Studium Albrecht von Hallers brachte ihn auf die Idee, ein Lehrgedicht „Über die Vielheit der Welten“ zu ſchreiben, das indes unvollendet blieb, und Gleim wurde ihm Vorbild in der Nachahmung anakreontiſcher Dichtungen.

Mit ſiebzehn Jahren bereits hatte Leſſing die erſte Klaſſe erreicht. Da die vorgeſchriebene Dauer der Schulzeit noch nicht vollendet war, ſo wurde er beim Dresdner Oberkonſiſtorium um ſeine vorzeitige Entlaſſung vorſtellig; zunächſt jedoch vergeblich. Da ſollte der Krieg ihm behilflich ſein. Am 15. Dezember 1745 wurde die Schlacht bei Keſſelsdorf geſchlagen. Von den Meißner Höhen aus

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ſah man den Himmel vom Wiederſcheine brennender Dörfer gerötet, und man hörte mit Schrecken den Donner der Kanonen. In Meißen ſelbſt wimmelte es von preußiſchen Soldaten, und die Fürſtenſchule mußte als Lazarett dienen. Die ganze Stadt war einer „Totengrube“ ähnlich. Infolge dieſer Umſtände wurde dem Jüngling die erbetene Entlaſſung aus der Fürſtenſchule genehmigt. Am 30. Juni 1746 hielt er ſeine lateiniſche Abſchiedsrede „Über die Mathematik der alten Völker“, und nach einem kurzen Aufenthalte im Elternhauſe zu Kamenz bezog er im September desſelben Jahres die Univerſität Leipzig, wo er um 20. genannten Monats als Studierender eingeſchrieben wurde.[7]

Nach des Vaters und beſonders auch der Mutter Wunſch ſollte Leſſing Theologie ſtudieren; allein obgleich er einen tiefreligiöſen Sinn in ſich trug und für die Gottesgelahrtheit ein großes Intereſſe hegte, für den geiſtlichen Beruf und Stand ſelbſt hatte er wenig Neigung. Nicht um ein vergeſſener Prediger in irgend einem kleinen Städtchen zu werden, hatte ihm Gott ſo hohe Gaben ver­ liehen; nein, ſeine Beſtimmung ſollte es ſein, der ganzen Welt ein Prediger und dem geſamten Menfchengeſchlechte auf Erden eine Leuchte zu werden. Um ihn für eine ſolche Laufbahn vorzubereiten, war Leipzig gerade der geeignetſte Ort. Nicht allein, daß Leipzig ein Hauptſitz der Wiſſenſchaften war: durch ſeine be­ rühmten Meſſen, welche den Zuſammenſtrom von Fremden aus allen Weltteilen veranlaßten, durch ſeinen Buchhandel, welcher alle neueren litterariſchen Er­ ſcheinungen zuerſt in Leipzig auf den Markt brachte, durch ſeine weitgehenden Gerechtſame hatte es das Gepräge einer Weltſtadt erlangt.

Leſſing atmete in einer andern Luft. Hier ſah er, wie er ſelbſt ſagte, die ganze Welt im kleinen; hier lernte er einſehen, daß die Bücher ihn wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menſchen machen würden; hier ſorgte er zunächſt dafür, ſeine „bäuriſche Schüchternheit, ſeinen verwilderten und ungebauten Körper, ſeine gänzliche Unwiſſenheit in Sitten und Umgang“ abzulegen, indem er Tanzen, Fechten und Reiten lernte; hier widmete er ſich aber auch mit aller Begeiſterung den ſogenannten humaniſtiſchen Studien und den ſchönen Wiſſen­ ſchaften, die den vorwärtsſtrebenden Menſchengeiſt nicht in die engen Kreiſe eines beſtimmten Lehrfaches einzwängen, ſondern die harmoniſche Ausbildung des Menſchen durch das Studium der altklaſſiſchen Litteratur zu gewinnen ſuchen. So hörte er bei Erneſti, dem geiſtvollen Vertreter der altklaſſiſchen Philo­ logie, Vorleſungen über römiſche Altertümer und bei dem Profeſſor Kriſt Archäo­ logie; ferner beſuchte er die philoſophiſchen Disputationsübungen Käſtners, des geiſtreichen Epigrammendichters. In dieſe wurde er durch einen Freund und Landsmann, Chriſtlieb Mylius, einen jüngeren Bruder ſeines ehemaligen Privat­ lehrers Mylius, eingeführt. Derſelbe war zwar der begabteſte und bedeutendſte unter den damaligen jungen Leipziger Litteraten, aber leichtſinnig und ſpäter ziemlich verkommen und daher gar nicht nach dem Geſchmack des ehrwürdigen Pfarrers Leſſing.

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Für Leſſings ſpäteren Lebensgang beſtimmend wurde ſeine ausgeſprochene Vorliebe für das Theater. Die Leipziger Bühne, damals von der berühmten Friederike Neuber geleitet, galt als die beſte in ganz Deutſchland. Um freien Eintritt zu erlangen, überſetzte Leſſing gemeinſchaftlich mit ſeinem Freunde Weiße etliche franzöſiſche Stücke; ja, ſeine Leidenſchaft für das Theater ging ſo weit, daß er lieber trockenes Brot aß, als daß er den Beſuch desſelben verſäumte. „Der junge Gelehrte“, der, wie bereits bemerkt, umgearbeitet worden war, kam auf dieſer Bühne zur Aufführung und trug dem jugendlichen Dichter großen Ruhm ein.

Weniger freuten ſich die Eltern daheim über den neueingeſchlagenen Lebens­ gang ihres Sohnes. Dem Vater waren die Schauſpieler ein Greuel; er ſchrieb dem ſeiner Meinung nach verlorenen Sohne einen ſtrengen Strafbrief, ſetzte ihn in demſelben wegen Vernachläſſigung ſeines Univerſitätszweckes ſcharf zur Rede, tadelte mit Zornesworten des Sohnes „niederträchtigen Umgang mit Komödianten und Freigeiſtern“ und fügte alledem die Drohung zu, der Magiſtrat von Kamenz werde, wenn er dieſe Dinge erfahre, ihm ſein Stipendium entziehen, das nur „für Befliſſene der Gottesgelahrtheit“ beſtimmt ſei. Der Brief hatte indes nicht die gewünſchte Wirkung. Der Beifall, den „Der junge Gelehrte“ gefunden hatte, feuerte Leſſing noch mehr an, auf der betretenen Bahn weiter fortzuſchreiten, und ſo mußte die bekümmerte Mutter erfahren, daß der Sohn den Chriſtſtollen, den ſie ihm nach Leipzig geſchickt, bei einer Flaſche Wein mit Mylius und den Komödianten verzehrt habe. Dieſe Nachricht ſchlug dem Faſſe den Boden aus. Die Mutter weinte bitterlich; der Vater aber, der ſeinen Sohn am Rande des Verderbens ſah, nahm zu einer Notlüge ſeine Zuflucht. Sofort ſchrieb er dem halb verloren gegebenen Jünglinge die wenigen Worte: „Setze Dich nach Empfang dieſes ſogleich auf die Poſt und komme zu uns. Deine Mutter iſt todkrank und verlangt Dich vor ihrem Tode noch zu ſprechen.“ Sofort machte ſich der gehor­ ſame Sohn auf die Reiſe. Sie dauerte damals drei Tage. Während dieſer Zeit trat unerwartet ſtarker Froſt ein, und mit Schrecken denkt jetzt die zärtliche Mutter daran, daß Gotthold keine warmen Winterkleider beſitze und im Poſt­ wagen erfrieren könne. Sie macht ſich die bitterſten Vorwürfe: „Ach, wäre er doch lieber bei den Schauſpielern und Freigeiſtern geblieben! Doch er wird nicht kommen! Ungehorſam lernt ſich in böſer Geſellſchaft!“

Indes Gotthold kam. Halb erfroren tritt er in die Stube. Die Mutter iſt erfreut, den verloren geglaubten Sohn wiederzuſehen, und nur in Sorge, der Froſt möge ihm geſchadet haben. Mit Thränen in den Augen ſpricht ſie: „Warum biſt du auch bei der Kälte gekommen?“ Freundlich erwiderte Gotthold: „Liebſte Mutter, Sie wollten es ja! Es ahnte mir gleich, daß Sie nicht krank wären, und ich freue mich herzlich darüber!“ Dabei klapperte er vor Froſt an Händen und Füßen. Da ſchmilzt die Strenge der Mutter, und aus der Straf­ predigt, die man ihm zugedacht hatte, wurde ein trauliches Geſpräch.

Auch der Vater erkannte, daß ſeines Sohnes Sittenreinheit makellos ge­ blieben war und er in den Wiſſenſchaften tüchtige Fortſchritte gemacht hatte. Als Gotthold ſich nun hinſetzte und eine erbauliche Predigt ſchrieb, um zu beweiſen,

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„daß er alle Tage ein tüchtiger Prediger werden könne,“ da vergab ihm das treue Mutterherz allen Kummer, den er ihr durch die Schauſpieler bereitet hatte.

Drei Monate lang blieb Leſſing im elterlichen Hauſe. Das Verlangen, er ſolle Theologie ſtudieren, gab man auf, und endlich willigten die Eltern ein, daß er ſich der Medizin und Philologie widme. In freundlichſtem Einvernehmen mit Vater und Mutter verließ Leſſing Kamenz und begab ſich Oſtern 1748 wieder nach Leipzig.

Hier ſetzte er ſeine wiſſenſchaftlichen Studien fort, kam aber bald in neue Ver­ legenheiten. Er beſuchte nach wie vor fleißig das Theater und unterhielt aufs neue lebhaften Verkehr mit deſſen Mitgliedern. Indes noch in demſelben Jahre verließ die Schauſpielertruppe der Friederike Neuber Leipzig, um einem Rufe nach Wien Folge zu leiſten. Leider hatte ſich Leſſing bereit finden laſſen, für einige Schauſpieler, die ziemlich verſchuldet waren, Bürgſchaft zu leiſten. Jetzt gingen dieſelben auf und davon, ohne vorher ihren Verpflichtungen nachzukommen, und Leſſing, von den Gläubigern bedrängt, geriet in die unangenehmſte Lage. Er ſah keinen andern Ausweg, als die Flucht und wandte ſich nach Wittenberg, um dort weiter zu ſtudieren. Kaum dort angelangt, erkrankte er und fühlte ſich ſo elend, daß ihm, wie er in einem Briefe an ſeine Mutter bekennt, das Leben „zu einer unerträglichen Laſt “ geworden war. Die Leipziger Gläubiger ver­ folgten ihn auch bis hierher, und ſo faßte Leſſing nach ſeiner Geneſung den Ent­ ſchluß, dieſen Verlegenheiten ein für allemal ein Ende zu bereiten, indem er die Univerſitätsſtudien aufgab und im November nach Berlin überſiedelte, um fortan vom Ertrage ſeiner Feder ſein Leben zu friſten, während ſeine Stipendien zur Abzahlung ſeiner Leipziger Schulden verwendet werden ſollten. Mit der Wiſſenſchaft und mit den Eltern, welche den planloſen Lebensgang des Sohnes bitter verurteilten, zerfallen, durch Mangel am Nötigſten aufs äußerſte bedrängt, ohne Stütze außer ſeiner Kraft und ſeinem Mute, warf ſich der kaum zwanzig­ jährige Jüngling in die hochgehenden Wogen des Lebens. Die goldene Jugend­ zeit lag bereits hinter ihm, und die Not, dieſer furchtbare Dränger zur Arbeit, trat an ihn heran, dazu der noch peinigendere Schmerz, im Vaterhauſe keine Heimat mehr zu wiſſen. Er ſah letzteres nur einmal und zwar erſt in ſpäteren Tagen, wenige Jahre vor ſeinem Tode wieder, als er im Januar 1776 von ſeiner Reiſe nach Italien wieder in Deutſchland eintraf, wobei er den Weg von München aus über Dresden einſchlug, um in Kamenz ſeine alte Mutter zu beſuchen.

Kamenz ſelbſt hat den Mann, der bald nach Ablauf ſeiner Jugendzeit in die Bahnen des Ruhmes einlenkte und durch ſeine herrlichen Werke, insbeſondere auch durch ſeine Dramen „Minna von Barnhelm“, „Emilia Galotti“ und „Nathan der Weiſe“, übermächtig auf ſeine Zeitgenoſſen einwirkte, wohl zu ehren verſtanden. Steht auch, wie bereits bemerkt, das Geburtshaus Leſſings nicht mehr, ſo bezeichnet doch eine Granitplatte die Stelle, wo es vordem ſtand. Schon vorher, am 22. Januar 1824, war durch einen Arzt, Dr. Böniſch, das obenerwähnte Barmherzigkeitsſtift, das den Zweck hat, arme Kranke auf­ zunehmen, gegründet und dem Dichter zu Ehren „Leſſingſtift“ genannt worden. Im Frühlinge des Jahres 1863 wurde auf dem Schulplatze die Koloſſalbüſte

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Leſſings, modelliert von Knaur, feierlich enthüllt, und neuerdings hat man den auf dem Hutberge errichteten Ausſichtsturm, der einen weiten Blick in die an­ ziehende Lauſitz eröffnet, dem großen Sohne der Stadt Kamenz zu Ehren „Leſſingturm“ genannt.

BrunoMüller.

Johann Gottlieb Fichte. Johann Gottlieb Fichte.



[7] Genau 20 Jahre ſpäter, an demſelben Tage, trat der ſiebzehnjährige Goethe in Leipzig als Student ein.