Schon von alters her war das zwiſchen Hirſchfelde und Oſtritz gelegene, über aus reizende, an manchen Stellen aber auch wildromantiſche Neißethal der Zielpunkt der Sommerausflügler von Zittau, Görlitz und Umgegend. Seit Oktober 1875 verbindet eine Eiſenbahn, an der Neiße hinführend, die genannten beiden Städte, und ſeitdem ſteigert ſich mit jedem Jahre der Zufluß von Fremden. Nicht zuletzt verdankt jedoch dieſer Teil der ſächſiſchen Oberlauſitz den außerordent lich regen Fremdenverkehr dem Intereſſe für das am nördlichen Ausgange des Neißethales gelegene Kloſter St. Marienthal.
Auf drei Seiten von Bergen eingeſchloſſen, nur nach Norden zu mit Altſtadt und Oſtritz durch eine Landſtraße verbunden, iſt es für den von Hirſchfelde im Neißethale herabkommenden Wanderer ſo lange verborgen, bis er beinahe vor den Pforten desſelben angelangt iſt. Der erſte Blick auf die im dunklen, ſchatti gen Neißewaſſer ſich freundlich abſpiegelnden ſonnigen Kloſtergebäude iſt aber von einer ſolchen ungeahnten Wirkung, daß der von dieſem anmutigen Bilde angenehm überraſchte Wanderer unwillkürlich ſeine Schritte hemmt, um, auf den Reiſe ſtab geſtützt, ungeſtört und mit Muße recht lange dieſen reizenden Anblick zu ge nießen. Lautloſe Stille ringsum! Nur das über ein in der Nähe gelegenes künſtliches Steinwehr hüpfende kryſtallhelle Neißewaſſer belebt durch ſein ein töniges Rauſchen das hier ſich erweiternde ſtille Thal. Darüber wölbt ſich in unermeßlicher Höhe der tiefblaue Himmel, und verirrt ſich ab und zu einmal ein Windhauch in die Enge dieſes Thales, dann bewegen wohl die uralten Baum rieſen ihre Wipfel, und ein Säuſeln geht durch ihre Gezweige, als erzählten ſie einander von den Thaten und Geſchehniſſen längſt vergangener Zeiten. Doch
genug der Träumereien! Den Wanderſtab zur Hand, und nun vorwärts dem nahen Ziele zu!
Durch ein einfaches Hofthor geht’s in den geräumigen Kloſterhof, der auf allen Seiten von den verſchiedenſten Wirtſchaftsgebäuden umſchloſſen wird. Zur Rechten liegt eine Mahlmühle, mit welcher ein Brettſchneidewerk verbunden iſt. Daran reiht ſich die Brauerei, in deren ausgedehnten Kellereien das nicht bloß in der nächſten Umgegend, ſondern auch weit über den Bereich der Kloſterherr ſchaft hinaus bekannte ſchmackhafte Kloſterbier lagert. Zur Linken folgt eine Reihe Scheunen und Ställe, die nach der Propſtei zu mit dem Gebäude für das zahlreiche Geſinde und Dienſtperſonal der Herrſchaft abſchließen. Von dieſen Gebäuden aus bilden prächtige Raſenplätze, mit Strauch- und Baumgruppen be ſetzt, ſowie ein Röhrbrunnen mit friſchem Trinkwaſſer und eine zierlich aus geführte Madonnenſtatue den Übergang zu den eigentlichen Stiftsgebäuden. Die Wohnungen der Jungfrauen mit den für dieſelben notwendigen Küchen- und Kellerräumen liegen in einem länglichviereckigen Gebäude, deſſen Vorderſeite von der Abtei gebildet wird. Hier hat die Äbtiſſin ihren Wohnſitz. Links davon, jenſeits der Madonnenſtatue, lugt die Propſtei mit den Wohnungen für den Propſt und die übrige Kloſtergeiſtlichkeit aus dem grünen Blattwerk der ſie bei nahe verdeckenden Baumgruppen hervor. Zwiſchen beiden Gebäuden hindurch gelangt man in die dahinter liegende prächtige Kloſterkirche. Geheimnisvolles Dunkel erfüllt die weiten Räume des einſchiffigen Gotteshauſes; denn durch den tief herabreichenden Jungfrauenchor wird das belebende Licht der darüber befind lichen Fenſter abgeſchnitten. Nur der über und über vergoldete Hochaltar mit ſeinen vielen lebensgroßen Figuren erſtrahlt im vollen Glanze der durch die hohen, buntfarbigen Bogenfenſter hereinbrechenden Nachmittagsſonne.
Doch horch! Leiſe, wie aus weiter Ferne dringen jetzt andächtige, feierliche Weiſen an unſer Ohr, die ſich allmählich ſteigern, unterſtützt von den immer lauter und kräftiger durch das ſtille Gotteshaus dahinbrauſenden Klängen der Orgel, bis ſich beide vereinigen zu einem Jubelhymnus, zum Lobe des Aller höchſten, dem hier in der Stille und Einſamkeit eines engen Thalbeckens ſeit Jahr hunderten von frommen, gläubigen Kloſterfrauen zur eigenen Erbauung und zum Segen für das andächtig mitfeiernde Volk Altäre errichtet wurden.
Tief ergriffen von den ſoeben empfangenen Eindrücken, treten wir wieder heraus aus dem Dunkel der Kirche in den Bereich der Leben und Segen ſpenden den Sonne und folgen nunmehr der Führung des freundlichen Begleiters, der uns in ſchlichten Worten mit Vergangenheit und Gegenwart dieſes alt ehrwürdigen Kloſterſtiftes, ſowie mit deſſen beſonderen Einrichtungen näher bekannt zu machen verſucht.
St. Marienthal iſt ein Ciſterzienſerkloſter. Den Namen Marienthal oder Morgenthal führen die Urkunden des Stiftes erſt ſeit dem Jahre 1400, wäh rend es bis dahin ſtets als Sifridsdorf oder Kloſter bei Sifridsdorf bezeichnet iſt. Dieſes Dorf lag auf dem das linke Neißeufer im Weſten begleitenden Höhen zuge und zwar an dem durch Brunnen und einige alte Mauerüberreſte kennt lichen Platze ſüdlich von der an der Bergſchenke vorüber nach Hirſchfelde führen
den Straße. Ein ſteinernes Kapellchen am Wege, noch jetzt die Siegfridskapelle genannt, erinnert an das einſt an dieſem Orte befindliche Dorf, und vielfach wird dieſe Gegend von den anwohnenden Leuten auch in unſeren Tagen noch als „das alte Dorf“ bezeichnet. Infolge der Huſſiteneinfälle wurde dieſes älteſte Be ſitztum des Kloſters, ein Geſchenk der Königin Kunigunde von Böhmen, durch Brand zerſtört, und es iſt ſeitdem nicht wieder aufgebaut worden. Aus den dazu gehörenden Feldern ent ſtand in der Folge das Kloſtervorwerk.
Das Ordenskleid der Kloſterjungfrauen be ſteht aus einem weißen Unterkleide, ſchwarzem Schleier und Skapulier (d. i. ein über Bruſt und Rücken bis zu den Füßen herabwallendes ſchwarzes Überkleid, welches an den Hüften durch einen breiten ſchwarzen Gürtel zuſam mengehalten wird). Außer dem trägt die Äbtiſſin auf der Bruſt an goldener Kette ein goldenes Kreuz, eine Auszeichnung, welche 1737 auf dem General kapitel zu Ciſterz ſämt lichen Äbtiſſinnen der Ciſ- terzienſerklöſter zuerkannt wurde. Bei wichtigen Ordensfeierlichkeiten be dient ſie ſich als weiteren Zeichens ihrer hohen Würde des biſchöflichen Hirten- ſtabes, Pedum genannt.
Ordenskleid der Äbtiſſin des Kloſters Marienthal.
Die Ordensregeln ſind die des heiligen Benedikt von
oder der feierliche Proſeß jedoch erſt nach erfolgter geſetzlicher Mündigkeit ſtatt finden. Bis zu jener Zeit bleibt es jeder Novize (ſo werden die Neuaufgenom menen genannt) unbenommen, aus dem Kloſter wieder auszutreten, wenn ſie Luſt und Liebe für die Genüſſe des Lebens dazu veranlaſſen ſollten. Nach ab gelegtem feierlichen Proſeß erhält jede Novize einen neuen Taufnamen, den ſo genannten Kloſternamen, bei dem ſie fernerhin nur genannt wird.
An der Spitze des Konvents ſteht die von der Kommunität freigewählte
Äbtiſſin mit ihren Stellvertreterinnen, der Priorin und der Subpriorin; die
Kaplanin iſt die ſtete Begleiterin der Äbtiſſin. Für Ordnung in Bibliothek und
Archiv ſorgt die Sekretärin. Die Leitung des Kirchengeſanges liegt in den
Händen der Regens
Für die Leitung des Gottesdienſtes und für den äußeren Verkehr mit der Weltgeiſtlichkeit, ſowie mit den dem Kloſter vorgeſetzten weltlichen und geiſtlichen Behörden ſind der Äbtiſſin drei Geiſtliche ihres Ordens an die Seite geſtellt, an deren Spitze der Propſt als ihr nächſter Ratgeber ſteht. Die Oberaufſicht über dieſes und das andere ſächſiſche Kloſter St. Marienſtern bei Bautzen, ſowie über die beiden böhmiſchen Klöſter zu Oſſeg und Hohenfurth führt der jedesmalige Prälat von Oſſeg. Außerdem wählte ſich das Stift von jeher als Beſchützer und Beſchirmer ſeines weitverbreiteten Grundbeſitzes einen Schirmvogt. Seit den Huſſitenkriegen änderte ſich deſſen Geſchäftskreis. Nunmehr war er der weltliche Vertreter der Äbtiſſin als Gutsherrſchaft, ſowohl in der Verwaltung des Juſtiz weſens, als auch bei den Landtagsverſammlungen. Seit der Reformation liegt dieſes Amt ſtets in den Händen eines in der Umgegend angeſeſſenen Herrn adeligen Standes und evangeliſcher Konfeſſion. Die Bewirtſchaftung der klöſter lichen Ländereien beſorgt ein Ökonomieverwalter und die Pflege des umfäng lichen Waldbeſtandes ein königlicher Oberförſter. Das Beſitztum des Stiftes beſteht aus 16 Ortſchaften unter königlich ſächſiſcher und aus 7 Ortſchaften unter königlich preußiſcher Landeshoheit.
Mancherlei harte Schickſale hat das Kloſter St. Marienthal ſeit ſeiner Gründung im Jahre 1234 zu ertragen gehabt. Kaum waren die bedrängnis vollen Zeiten der Huſſitenkriege zu Ende, innerhalb welcher die Stiſts- und Wirt ſchaftsgebäude zu wiederholten Malen bis auf die Grundmauern zerſtört wurden, ſo vernichteten große Brände in den Jahren 1515, 1542 und 1683 die kaum
wieder aufgerichteten Gebäude aufs neue. Nach dem letzten Brande erſtanden jedoch aus Schutt und Aſche die von Geſchmack und Bauverſtändnis der damaligen Äbtiſſin zeugenden ſchönen, maſſiven Kloſtergebäude, wie wir ſie jetzt zu bewundern Gelegenheit haben.
Unterdeſſen ſind wir an der Abtei vorüber und bei der Michaeliskapelle ange
kommen. In der Krypta derſelben befindet ſich die Grabſtätte der im Jahre 1854
in Mexiko verſtorbenen gefeierten Sängerin Henriette Sonntag und ihres Ge
mahls, des Grafen Roſſi. Die Fresko-Gemälde der Kuppel ſollen im Jahre
1756 unter Äbtiſſin
Wir verlaſſen nun den inneren Kloſterhof und kommen an den Gebäuden des Kloſterſekretariats, der Ökonomieverwaltung und des Thorwächters vorüber an das äußerſte Thor. Vor uns liegt die einfache, aber durch ihre guten Speiſen und Getränke vorteilhaft bekannte Kloſterſchenke. Wir wenden uns jedoch links, an der Schloſſerei vorüber, und folgen dem etwas ſteil nach Weſten aufſteigenden Kommunikationswege, der nach der Bergſchenke führt, und gelangen ſo rechts an eine mit Kapellchen beſetzte Anhöhe, wo die Stationen des Leidens Jeſu Chriſti bildlich dargeſtellt ſind. Dieſelben wurden im Jahre 1736 von Äbtiſſin Klara Mühlwenzelin aus Eger errichtet und an der Spitze mit dem ſteinernen Bildniſſe des Gekreuzigten nebſt den dazu gehörigen Statuen gekrönt.
Von hier aus genießt man einen entzückenden Ausblick auf das friedliche Kloſterſtift, von deſſen Kirche ſoeben die Klänge der Abendglocke feierlich herüber tönen. In der Ferne, über Königshain und Blumberg, werden im Süden und Oſten die weithin ſchauenden Kuppen des Zittauer- und Iſergebirges ſichtbar.