Eine Sage.
Ein Teil des Löbauer Berges heißt wegen der daſelbſt wachſenden Kräuter der Kräutergarten. Hier blühte, wie eine alte Sage erzählt, aller hundert Jahre, manche ſagen auch, aller zehn Jahre, eine Blume, die nirgends ſonſt gefunden und in keiner Naturgeſchichte beſchrieben worden iſt. Aber nur eine einzige Stunde entſendete ſie ihre Wohlgerüche und zwar von elf bis zwölf Uhr in der Nacht des Tages, an welchem Johannes der Täufer geboren wurde.
Mehrmals iſt ſie geſehen, aber nicht gepflückt worden. So erzählt man von einem Ratsförſter, Kajetan Schreier, der im Jahre 1570 dieſe Blume erblickte und die Herrlichkeit derſelben gar nicht genug rühmen konnte. Er war wie im Paradieſe, wagte aber nicht, die Blume zu brechen. Schlag zwölf Uhr (er hatte ſich auf der Jagd ſehr lange aufgehalten) zuckte ein Blitz nieder, und alles war verſchwunden; nur ein Stück ſchwarzen Pergamentes wehte der Wind zu ihm herüber, auf welchem mit goldener Mönchsſchrift folgende Worte ſtanden: „Der Sterbliche von reiner Seele, der zu meiner Blütezeit von ungefähr hierherkommt, kann das Glück, das ich ihm gewähre, genießen.“
Mehrere Male begaben ſich am Johannisabende einige Wagehälſe in den Kräutergarten und ſuchten die Wunderblume, aber ſie wurde nicht ſichtbar.
Ungefähr fünſzig Jahre darauf lebte in Löbau ein wohlhabender Tiſchler, der eine einzige Tochter hatte, welche durch ihre Schönheit ebenſo bekannt als durch ihren häßlichen Charakter berüchtigt war. Stolz auf ihren Reichtum und ihre äußeren Reize, blickte ſie mit Verachtung auf alle ihre Mitſchweſtern, verleumdete ſie und gönnte ihnen kein Lob von irgend einer Seite. Ebenſo betrübte ſie ihre Eltern durch Ungehorſam, ſchlug ihre guten Lehren in den Wind und lachte recht hämiſch, wenn ſie ihr damit drohten, daß es ihr nie wohlgehen würde, ſofern ſie ſich nicht beſſere.
„O, mich ſollen noch alle beneiden, wenn ich nur erſt die Wunderblume haben werde, und ich will und muß ſie bekommen! Wie werden ſich dann die übrigen ärgern!“
Der Johannisabend erſchien, und Margarete, ſo hieß das Mädchen, machte ſich auf, ohne irgend jemandem etwas zu ſagen. Geradewegs ſchritt ſie dem Berge zu, wo ſie alle Wege und Stege gut kannte. Unheimlich und ſchauerlich war’s ihr, als ſie den Kräutergarten erreichte; aber der Gedanke an den Triumph, den ſie über ihre Mitſchweſtern feiern zu können glaubte, verſcheuchte alle Bangig keit. Sie konnte kaum den erſten Glockenſchlag erwarten. Elf ſchlug’s in Löbau, und wirklich verwandelte ſich ein Teil der Gegend in einen herrlichen Blumen garten, und die Wunderblume entſproßte. Fröhlich trat Margarete näher, ſtreckte die Hand nach der Blume aus, faßte ſie am Stiele – aber plötzlich zuckte ein Blitz durch die Lüfte, ein furchtbarer Schlag folgte, und die helle Nacht ward zur ſchwärzeſten Finſternis. Margarete ſank beſinnungslos zu Boden.
Am hellen Morgen erwachte ſie. Aber welch ein Erwachen! Die eine Seite ihres ſonſt ſo ſchönen Körpers war ganz ſchwarz, wie verbrannt; ſie konnte kein Glied bewegen. Anmut und Schönheit waren dahin für immer. Recht elend fühlte ſie ſich nun, und die Worte der Liebe, die Ermahnungen ihrer Eltern ſchwebten ihr jetzt vor der Seele — freilich zu ſpät. Gegen Mittag fand man ſie. Man brachte ſie ins elterliche Haus, wo ſie nach einigen Jahren ſtarb. —
In demſelben Hauſe wohnte fünſzig Jahre ſpäter ein armer Schuhmacher zur Miete, Namens Kowar, ein alter, ehrlicher, biederer Wende. Seine Frau und eine Tochter Herta (Henriette) teilten mit ihm Freud und Leid. Nur ein einziges kleines Stübchen hatte er inne, das, obgleich Arbeitsſtube, doch von der guten Tochter ſo nett und rein gehalten wurde, als wäre es die ſchönſte Putz ſtube eines Reichen. Durch Näharbeit ſuchte ſie außerdem eine kleine Einnahme zu erzielen, um ihren ſchon ziemlich bejahrten Eltern, die ſie zärtlich liebte, ſo manche Bequemlichkeit zu verſchaffen, die ſie ſonſt hätten entbehren müſſen. Äußerer Schönheit konnte ſie ſich nicht rühmen, aber deſto mehr glänzte ſie durch gute Eigenſchaften des Herzens. Beſonders zeichnete ſie ſich aus durch Beſcheidenheit und Sittſamkeit. Wer ſie ſah, mußte ſie lieb gewinnen.
Doch unter allen Tugenden ſtand ihre unausſprechliche Elternliebe obenan. Oft ſaß ſie ganze Nächte hindurch im kleinen Stübchen, in das ſie ſich zurückſchlich, wenn ihre Eltern eingeſchlafen waren, um irgend eine Arbeit zu vollenden, die für ſie beſtimmt war. Oft betete ſie: „Ach, könnte ich den Eltern nur mehr Gutes thun; könnte ich ihnen nur einen Teil der Wohlthaten vergelten, die ſie mir von Jugend an erwieſen haben! Gott, gieb mir Kraft, mich ſtets dankbar gegen meine guten Eltern zu zeigen!“ Und ſiehe, Gott erhörte ihr Gebet; ſie wurde eine reiche Wohlthäterin ihrer Eltern.
Die hohe, ſchlanke Geſtalt mit dem blonden Haare, den blauen Augen und dem, wenn auch nicht gerade ſchönen, ſo doch anmutigen Geſichte wandelte am Johannistage des Jahres 1670 hinaus zur Stadt, um aufs Land zu einer Freundin zu gehen, die mit ihr in gleichem Alter ſtand. Dieſe war die Tochter eines Guts beſitzers. Dort ſollte am folgenden Tage beider Geburtstag gefeiert werden; denn beide wurden jetzt zwanzig Jahre alt. Gewöhnlich hielt ſich Herta einige Tage bei ihrer Freundin auf. Ihr Weg führte ſie an dem Löbauer Berge vorbei. Der Tag war ſonnenklar und ſchön geweſen und neigte ſich jetzt dem Abende zu.
„Ich will doch einmal den Berg beſteigen,“ ſagte Herta leiſe, „lange bin ich nicht oben geweſen, und ich komme vor Abend immer noch zur Freundin.“
Gedacht, gethan! Leichtfüßig ſchritt ſie auf den ihr bekannten Wegen dahin und kam endlich auch in den Kräutergarten. Aber nun war ſie müde und ſetzte ſich auf einen kleinen, mit Gras bewachſenen Hügel, das Geſicht nach der faſt untergehenden Sonne gewendet.
„O, wie herrlich biſt du, Sonne! Wie ſchön muß erſt dein Schöpfer ſein!“ rief ſie nach einer Weile und faltete die Hände. „Herr, wie ſind deine Werke ſo groß und viel! Viel haſt du des Segens; ſegne und beſchütze meine Eltern lange, noch lange!“
Während ſie ſo betete, hatte ſie ſich etwas auf die Seite geneigt; himmliſcher Friede umſtrahlte ihr Angeſicht; ein zufriedenes Lächeln umſpielte den Mund — ſie war entſchlummert. Das war der Schlummer der Unſchuld. Die Sonne ver ſchwand, immer dunkler und dunkler ward es, feierliche Stille herrſchte ringsum, und in Löbau verkündigte die Glocke in langſamen Schlägen die elfte Stunde.
Da wurde es auf einmal hell; ein Bogen wölbte ſich über der Schlummernden, gleich einem Regenbogen, der in herrlichen Farben erglänzte. Danach durchtönte die ſtille Nacht Muſik, gleich Äolsharfenklängen, die durch ihre lieblichen Töne die Schläferin weckte. Dieſe richtete ſich auf, nicht wiſſend, ob ſie wache oder träume. Je mehr ſie nachdachte, deſto ungewiſſer wurde ſie. Noch nie hatte ihr Ohr ſolche Töne vernommen, noch nie ihr Auge ſolchen Farbenglanz geſchaut; noch nie hatten lieblichere Blumendüfte und Wohlgerüche ſie umgeben. Die ganze Gegend ſchien ein Paradies zu ſein; herrliche Blumen in nie geſehenem Glanze ſtanden vor ihr zuſammengedrängt. Unter allen dieſen Blumen aber zeichnete ſich eine aus. Ihre Krone war purpurn, mit goldener Einfaſſung, grün mit Silberrändchen das lotosähnliche Blatt, veilchenblau der Stengel. Sie hatte – wiewohl großartiger — der Lilie Geſtalt, und weit und breit dufteten, als ſie ihren Kelch erſchloß, ihre Wohlgerüche.
Lange ſaß Herta da, ohne zu wiſſen, was ſie thun ſolle. Da berührten wunderliche Töne ihr Ohr; bald ſchienen ſie aus der Luft zu kommen, bald aus dem Kelche der Blume; bald ſchienen ſie entfernter, bald näher zu ſein; ſie ſäuſelten ihr die Worte zu:
„Für dich blüht dieſe Blume, Nur du biſt ihrer wert. Drum ſei zum Eigentume, Zum Lohn ſie dir beſchert.“
Unwillkürlich ging ſie einige Schritte vorwärts, ſtreckte ihre Hände aus, knickte die Blume und zog zugleich die Wurzeln mit einem Stück des Erdreiches aus. Welch neues Wunder ſah ſie da! Die Wurzeln waren von blankem Golde, und unter dem aufgehobenen Erdreiche lagen koſtbare Steine und blanke Gold ſtücke. Ohne ſich lange zu beſinnen, ſteckte ſie die abgepflückte Blume an den Buſen, füllte ihr Körbchen mit Gold, nahm noch einiges in die Schürze und die Edelſteine in die Hand.
Kaum war ſie fertig, ſo kündete die Turmuhr durch ihre dumpfen Schläge den Eintritt der Mitternacht an. Das Paradies verſchwand, und Finſternis um lagerte den ganzen Berg; nur die Wunderblume glänzte am Buſen des Mädchens wie heller Kerzenſchein und ließ ſie die Wege erkennen. Glücklich erreichte ſie das Vaterhaus, und ſchnell weckte ſie die Eltern aus dem ſüßen Schlummer. Dieſe waren nicht wenig verwundert, als ſie der Tochter Stimme zu dieſer mitternächt lichen Zeit vernahmen. Sobald ſich die Thür öffnete, war die Wunderblume verſchwunden, und nie hat ein Menſch ſie wieder geſehen. Das Geld und die Edelſteine verblieben, und die arme Familie war mit einem Male unermeßlich reich.