Wer jemals die Stadt Schandau beſucht hat, wird wiſſen, daß ſich einige Teile des Ortes, die „Zaucke“ und die „Badergaſſe“, ein Stück in die Thäler hineinziehen, welche in das große Elbthal bei Schandau münden.
Zwiſchen dieſen Thälern liegt ein Höhenausläufer, der den Namen Schloß- berg führt. Wohlgepflegte Promenadenwege ſchlängeln ſich jetzt bis zu ſeinem höchſten Punkte empor, der zur Erinnerung an längſt verſchwundene Zeiten, in welchen eine ſtolze Burg den an den Berg ſich anſchmiegenden Ort und das be nachbarte Elbthal beherrſchte, eine künſtliche Ruine, Namens Frienſtein, ſchmückt.
Auf dem Schloßberge befindet ſich auch eine von Geröll ſchon zum Teil aus gefüllte Vertiefung, der Schloßbrunnen, von dem unter dem Volke eine gar wunderbarliche Sage geht, und der noch heute für manchen Ortsbewohner eine unheimliche Stätte iſt. Von dieſem Schloßbrunnen erzählt man ſich folgendes:
„Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal in Schandau ein blutarmer, aber frommer Schneidergeſelle. Er ging wenig mit ſeinesgleichen um, obgleich er auf der weiten Gotteserde ganz mutterſeelenallein daſtand. Die übrigen Geſellen waren ihm zu laut und luſtig, und er konnte ſich mit ihrem Weſen nicht be freunden. Daher ſah man ihn auch nur ſelten in Schankhäuſern. Dafür traf man ihn aber jeden Sonntag in der Kirche. Wenn ihn auch ſeine Kameraden darob weidlich hänſelten, ſeinem Meiſter war es recht; denn der Geſelle ſuchte in Fleiß und Sauberkeit der Arbeit ſeinesgleichen. Nach dem Gottesdienſte ſtieg er immer einſam und für ſich allein in den ſchönen Bergen umher, ſofern das Wetter dazu günſtig war. War es aber rauh und unfreundlich, dann ſaß er ſtill und in ſich gekehrt zu Hauſe.
So kam er denn einſt an einem ſchönen Tage im März, es war juſt Sonn
tag
Da trat plötzlich aus dem Gebüſch zu ſeiner Seite eine hochgewachſene Frauengeſtalt in altertümlicher Tracht hervor. Lanſam ſchritt ſie auf den be ſtürzten Schneidergeſellen zu, der von ſeinem Sitze aufgeſprungen war und mit Verwunderung die unerwartete Erſcheinung anſtarrte. Bei allem Schreck war er dennoch im Innern ſtill beglückt; denn er glaubte noch nie etwas Schöneres ge ſehen zu haben. Auf ihrem Geſicht war tiefe Trauer ausgedrückt, und doch leuch teten ihre Augen hoffnungsfreudig auf, als ſie zu dem Schneidergeſellen ſprach:
‚Erſchrick nicht und fürchte dich nicht! Ich bin das Schloßfräulein. Schon lange habe ich dich beobachtet, wenn du meinen Berg beſtiegen haſt. Ich weiß, daß du fromm und gut biſt. Nur darum, und weil du ein Sonntagskind biſt, kannſt du mich ſehen. Ehe ich aber noch weiter mit dir rede, verſprich mir, keiner Menſchenſeele zu verraten, was ich dir jetzt ſagen werde!‘
Der Schneidergeſelle, der ſich immer noch nicht von ſeinem Schrecken und Erſtaunen erholt hatte, konnte nur mit Mühe und Not hervorſtammeln, daß er niemand etwas mitteilen wolle. Darauf fuhr die Schloßjungfrau fort:
,Dich hat mir Gott geſandt, denn du kannſt mich erlöſen. Ich bin ſchon ſeit 500 Jahren hier verzaubert und muß für die Sünden meiner Vorſahren büßen. Nur aller 500 Jahre iſt der Tag, an dem ich gerettet werden kann, und zwar durch einen frommen, jungen Mann. So du willſt, kannſt du den Bann brechen. Komm über zwölf Tage, mittags 12 Uhr, wieder hierher. Gehe aber den Tag vorher zum heiligen Abendmahle, beichte und bekenne deine Sünden. Ich werde dir dann wieder erſcheinen, freilich in anderer Geſtalt. So ſchrecklich ich dir dann auch vorkommen mag, laß dir vor mir nicht grauen, ſondern küſſe mich dreimal brünſtig auf den Mund. Dann iſt der Zauber gelöſt; ich werde dem Leben wieder zurückgegeben ſein und mit allen meinen Schätzen, die in dieſem Berge verborgen find, dein werden können. Vergiß nicht, was ich dir geſagt habe; ſchweige und nun lebe wohl!‘
Mit dieſen Worten war ſie verſchwunden.
Es dauerte geraume Zeit, ehe ſich der Schneidergeſelle von der Betäubung, in die er durch das unerhörte Begegnis verſunken war, erholen konnte. Er glaubte geträumt zu haben. Aber ſo lebendig konnte man doch wohl nicht träumen! Er wiederholte ſich alles, was ihm die Schloßjungfrau geſagt hatte, ging dann ruhig und ſtill nach Hauſe und überlegte, was er wohl thun ſolle. Zwar kam ihm einmal der Gedanke, es könne ihm ein böſer Geiſt erſchienen ſein, der ihn verderben wolle; doch verwarf er dieſen Gedanken ſofort. War nicht über zwölf Tage der hochheilige Karfreitag? und da ſollte er ſie erlöſen. Und am Tage vorher war Gründonnerstag; da ſollte er das heilige Abendmahl nehmen. Nein, es konnte kein böſer Geiſt ſein, der ihm ſolches riet. So kam er zu dem Ent ſchluſſe, das Werk zu vollbringen. Noch manchmal wandelte ihn bei dem Ge danken daran ein Grauen an, aber er unterdrückte es immer wieder.
Gar zu gern hätte er den Geiſtlichen nur Rat gefragt; aber er hatte ja ver ſprochen, niemand etwas zu ſagen, und das gegebene Wort mußte er halten. So verſtrich die Zeit. Palmſonntag kam. Da wagte er ſich nicht auf den Schloß- berg, ſondern blieb daheim. Am Gründonnerstag ging er zur Beichte und zum
Abendmahle. Nun brach der Karfreitag an. Mit pochendem Herzen ſtieg unſer Schneider nach dem Gottesdienſte langſam den Schloßberg hinauf und wußte es ſo einzurichten, daß er gerade zu der Zeit, als man unten im Thale das Mittags läuten begann, wieder an dem Orte ſtand, wo ihm die Schloßjungfrau das erſte Mal erſchienen war. Er wünſchte, die Verzauberte möge nur in derſelben Ge ſtalt wiederkommen, allein er konnte es kaum hoffen; denn dann wäre der Zauber nicht ſchwer zu löſen geweſen. Schon ſchien es, als wartete er vergebens auf ihr Erſcheinen.
Da plötzlich wand ſich zu ſeinem großen Entſetzen aus der Tiefe des Schloß- brunnens ein greuliches Ungeheuer hervor. Ein grünlich ſchillernder Schlangen leib mit häßlichem Kopfe, aus deſſen Munde eine tiefgeſpaltene Zunge ſich hervor ſtreckte, ſchob ſich langſam auf ihn zu. Das Ungeheuer ſprach hierauf: ‚Nun küſſe mich dreimal auf den Mund!‘ kam näher, erhob ſich mit dem Vorderteile und brachte den Kopf in gleiche Höhe mit dem ſeinen. Der arme Schneider hatte unterdes wie angewurzelt geſtanden. Schon der Anblick des Ungetüms war ihm grauenhaft; es nun auch noch zu küſſen, das wäre ihm um alle Schätze der Welt nicht möglich geweſen. Schritt für Schritt wich er zurück, bis er plötz lich mit dem Aufſchrei: ‚Alle guten Geiſter loben Gott den Herrn!‘ die Flucht ergriff.
‚Thörichter! was thuſt du?‘ rief die Schloßjungfrau dem Fliehenden nach, und mit dem ſchmerzlichen Ausrufe: ‚Nun muß ich abermals 500 Jahre ver zaubert bleiben!‘ ſank ſie wieder in die Tiefe des Schloßbrunnens zurück.
Erſt nach vielen Tagen wagte ſich der Schneider wieder auf den Schloß-
berg, doch die Schloßjungfrau erſchien ihm nicht wieder. Er bereute tief, daß er
nicht den Mut gehabt hatte, die Unglückliche zu erlöſen. Sein ſteter Gang am
Karfreitag war auf den Schloßberg, und an einem Karfreitage hat man ihn auch
einmal, nachdem er ein hohes Alter erreicht hatte, tot neben dem Schloßbrunnen
gefunden.“