Frische Morgenluft, mein Fahrrad führt mich hinaus zu den Hügeln am Ende der Stadt. Es ist noch kalt, aber der Frühling schickt seine ersten Boten. Ausgeruht und entspannt genieße ich den Augenblick der Freiheit. Radeln, den Puls spüren, das Rasen des Blutes in den Adern spüren. Die Reifen knirschen, angenehmer, kühler Wind weht mir übers Gesicht, Der Korb hopst bei jedem kleine Loch oder überfahrenen Stein, als ob es auch ihm Spaß machen würde. Radfahren ist schön, besonders bei solchem Wetter. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Es lenkt ab, die Gedanken befreien sich. Der Weg schlängelt sich eine weitere Anhöhe hinauf, die Sträucher am Rande senden farbige Grüße. Mir geht es gut und ich radele.
Hier auf den Hügeln befindet sich mein kleines Geheimnis, eine Höhle. Sie ist nicht groß und nur sehr schwer zu finden. Ich bin mal früher hinein gefallen. Die Wurzeln der Bäume sehen hier unten aus, als wären es Vorhänge oder Figuren. Ich finde den Platz herrlich. Hier ist es ruhig und hier hat man seine Ruhe. Seit Jahren ziehe ich mich öfters hierher zurück. Ich habe hier ein kleines Buch versteckt. Ein Buch, was nur hierher gehört. Ich fing es vor Jahren an zu schreiben:
24.6.1993
Freizeit, was tut man in der freien Zeit? Meistens
Langeweile, Zeit totschlagen mit Fernsehen, sinnlosen
Spielereien am Computer. Was nimmt man sich vor? Buch
lesen, Bücherei gehen, Freunde besuchen. Was ist ein
Freund? Der, der nur Videoclips und Kinofilme sieht,
der, der kommt, sein Lieblingsspiel zu spielen? Was
nimmt man sich noch vor? Verreisen. Reisen wohin?
Ungarn, Freundin. Feind im Haus? Ihr lange nicht
geschrieben, meine Schuld? Nicht Ungarn, wohin dann?
Nicht genügend Geld? Wenn Freundin mitkommen würde?
Keine Zeit, kein Geld? Zuhause? Langeweile? Nein,
wenn Pläne. Der nächste Tag kommt bestimmt.
26.2.1996
Zuviel Arbeit. Todmüde. Freizeit, was ist das?
Freunde? Ja. Einige wahre. Reisen? Ja, irgendwann.
Müde. Und der nächste Tag kommt.
Ohne Datum
Die neue Arbeit macht mir Spaß. Martina, eine gute
Freundin, ich glaube, ich liebe sie. Freundlich und
mit frischen Ideen, das Leben macht Spaß. Kleine,
aufgeweckte Rehaugen. Alternatives Radio.
Keiner schreibt einem was vor. Ein Ort ohne Regeln,
gelebte Anarchie. Meine Haare sind noch nicht viel
gewachsen. Ich war im Einsatz. Europäische Korps,
fünf Jahre, zwangsverpflichtet. Naja. Die
Europäische Union war immer schon stark von Frankreich
geprägt. Befehle, Blut und Elend zum Schutz der
Bürger. Sicherheit geht vor, sagt man. Mein Lieblings-
hobby haben sie mir auch vergällt. Verordnung zur
Überwachung der elektronischen Kommunikation:
[Ausschnitt aus einer Netznachricht]
Wg.: Bundesregierung plant key-escrow-Regelung fuer
dieses Jahr
Nachdem er sich "bei den zustaendigen Ressorts
sachkundig gemacht" habe, hat der Bundestagsabgeordnete
Dr. Gerhard Friedrich (CSU) meine (zur
Veroeffentlichung im WWW gedachte) Anfrage zu
beantwortet:
Kryptographie muesse sicher sein, gleichzeitig muesse
"ein Staat schon aus Staatsschutzgruenden in der Lage
sein, sich und seine Buergerinnen und Buerger zu
schuetzen, also gegebenenfalls Daten entschluesseln
koennen bzw. entschluessen lassen koennen."
In den zustaendigen Bundesministerien wuerden zur Zeit
verschiedene Modelle diskutiert, die rechtsstaatlichen
wie marktwirtschaftlichen Grundsaetzen genuegen
muessten; es koenne also weder eine vollstaendige,
permanente inhaltliche Kontrolle aller verschluesselten
Daten geben, noch "wird der Staat auf sein
Informationsrecht verzichten koennen, sobald seine
oder die Sicherheit seiner Buergerinnen oder Buerger
gefaehrdet erscheinen." Auch ein privates Unternehmen
koenne "nicht voellig frei von hoheitlicher Aufsicht
Monopolist bezueglich der von ihm kryptographierten
Daten sein".
Die angestrebte Loesung werde sich -- unter
Beruecksichtigung der Ergebnisse der Enquete-Kommission
zur Informationsgesellschaft -- in diesem Rahmen
bewegen. Friedrich: "Die Bundesregierung beabsichtigt,
noch in diesem Jahr zu entscheiden."
Der URL der Seite ist
http://www.thur.de/ulf/krypto/verbot.html.
Ohne Datum
Freiheit ist persönliche Freiheit. Freiheit ist,
Gedanken mit Anderen auszutauschen, ohne Gefahr zu
Laufen dafür bestraft zu werden. Freiheit ist
Zurückgezogenheit. Freiheit ist innere Zufriedenheit.
Ich habe kein Telefon, kein Netzzugang, keine Scheck-
karte, keine Krankenkasse, kein Einkommen. Der Wald
ist mein Leben, die Hügel mein Vergnügen. In der Stadt
bin ich anonym, es ist gut so. Ich hoffe, es gibt
dort noch andere.
Auszug aus einer Zeitung:
Badische Neuste Nachrichten, 8.7.2007
Terrorbande in Karlsruhe ausgehoben
[epa/bnn] Wegen des Verdachts auf Verstoß gegen die
Antiterrorgesetze wurden gestern mehrere Karlsruher
verhaftet. Auf Anweisung des europäischen
Polizeicomputers wurde ein Verhaftungsbefehl aufgrund
von Indizverdacht ausgestellt und von der örtlichen
Polizei durchgeführt. Hauptwachtmeister Reinbold: "Wir
überraschten die Haupt-Verdächtige an ihrem
Arbeitsplatz, in einem Karlsruher Alternativsender.
Sie stritt alles ab, aber die Beweise, die uns der
europäische Sicherheitscomputer geliefert hat, sind
überzeugend. Derzeit befindet sich die Verdächtige in
Vorbeugehaft." Da EUSpy vermutet, daß es sich nicht um
einen Einzelfall handelt, ist in den nächsten Tagen
rund um Karlsruhe mit verstärkten Rasterkontrollen zu
rechnen. Unbescholtene Bürger haben nichts zu
befürchten. Nach der Verhaftung kam es vor dem
ehemaligen Bundesverfassungsgericht zu spontanen
Tumulten. Die Randalierer forderten Beweise und die
Abschaffung der Antiterrorgesetze. Die Tumulte konnten
schnell niedergeschlagen werden. Die Kommissarin für
Information, Anna Lee McDonald meinte, auf diesen Fall
angesprochen: "Natürlich kann sich auch ein Computer
mal irren. Aber die automatisierte
Verbrechensbekämpfung hat die Rate der organisierten
Kriminalität in der Union erheblich gesenkt. Wir sind
damit sehr erfolgreich und werden es auch in Zukunft
sein. Sollte es sich in diesem speziell Fall
tatsächlich um einen Computerfehler handeln, werden
wir das natürlich überprüfen. Aber das ist mehr als
unwahrscheinlich. Ich vertraue dem
Sicherheitscomputersystem!"
Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Martina ist tot. Ich schreibe in das Buch nur zwei Wörter, schließe es und lege es wieder unter die Wurzeln.
Ich fahre wieder Fahrrad, zurück in die Stadt. Der Wind weht mir ins Gesicht. Das Laub der Bäume nickt mir zu. Am Himmel steht der Satz: "Ich lebe."