© Andreas Romeyke (sh. Rechtliche Hinweise)

(K)ein Tag wie immer

(geschrieben Anfang 1996)

Frische Morgenluft, mein Fahrrad führt mich hinaus zu den Hügeln am Ende der Stadt. Es ist noch kalt, aber der Frühling schickt seine ersten Boten. Ausgeruht und entspannt genieße ich den Augenblick der Freiheit. Radeln, den Puls spüren, das Rasen des Blutes in den Adern spüren. Die Reifen knirschen, angenehmer, kühler Wind weht mir übers Gesicht, Der Korb hopst bei jedem kleine Loch oder überfahrenen Stein, als ob es auch ihm Spaß machen würde. Radfahren ist schön, besonders bei solchem Wetter. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Es lenkt ab, die Gedanken befreien sich. Der Weg schlängelt sich eine weitere Anhöhe hinauf, die Sträucher am Rande senden farbige Grüße. Mir geht es gut und ich radele.

Hier auf den Hügeln befindet sich mein kleines Geheimnis, eine Höhle. Sie ist nicht groß und nur sehr schwer zu finden. Ich bin mal früher hinein gefallen. Die Wurzeln der Bäume sehen hier unten aus, als wären es Vorhänge oder Figuren. Ich finde den Platz herrlich. Hier ist es ruhig und hier hat man seine Ruhe. Seit Jahren ziehe ich mich öfters hierher zurück. Ich habe hier ein kleines Buch versteckt. Ein Buch, was nur hierher gehört. Ich fing es vor Jahren an zu schreiben:

24.6.1993
Freizeit, was tut man in der freien Zeit? Meistens Langeweile, Zeit totschlagen mit Fernsehen, sinnlosen Spielereien am Computer. Was nimmt man sich vor? Buch lesen, Bücherei gehen, Freunde besuchen. Was ist ein Freund? Der, der nur Videoclips und Kinofilme sieht, der, der kommt, sein Lieblingsspiel zu spielen? Was nimmt man sich noch vor? Verreisen. Reisen wohin? Ungarn, Freundin. Feind im Haus? Ihr lange nicht geschrieben, meine Schuld? Nicht Ungarn, wohin dann? Nicht genügend Geld? Wenn Freundin mitkommen würde? Keine Zeit, kein Geld? Zuhause? Langeweile? Nein, wenn Pläne. Der nächste Tag kommt bestimmt.

26.2.1996
Zuviel Arbeit. Todmüde. Freizeit, was ist das? Freunde? Ja. Einige wahre. Reisen? Ja, irgendwann. Müde. Und der nächste Tag kommt.

Ohne Datum
Die neue Arbeit macht mir Spaß. Martina, eine gute Freundin, ich glaube, ich liebe sie. Freundlich und mit frischen Ideen, das Leben macht Spaß. Kleine, aufgeweckte Rehaugen. Alternatives Radio. Keiner schreibt einem was vor. Ein Ort ohne Regeln, gelebte Anarchie. Meine Haare sind noch nicht viel gewachsen. Ich war im Einsatz. Europäische Korps, fünf Jahre, zwangsverpflichtet. Naja. Die Europäische Union war immer schon stark von Frankreich geprägt. Befehle, Blut und Elend zum Schutz der Bürger. Sicherheit geht vor, sagt man. Mein Lieblings- hobby haben sie mir auch vergällt. Verordnung zur Überwachung der elektronischen Kommunikation:
[Ausschnitt aus einer Netznachricht]
Wg.: Bundesregierung plant key-escrow-Regelung fuer dieses Jahr
Nachdem er sich "bei den zustaendigen Ressorts sachkundig gemacht" habe, hat der Bundestagsabgeordnete Dr. Gerhard Friedrich (CSU) meine (zur Veroeffentlichung im WWW gedachte) Anfrage zu beantwortet:
Kryptographie muesse sicher sein, gleichzeitig muesse "ein Staat schon aus Staatsschutzgruenden in der Lage sein, sich und seine Buergerinnen und Buerger zu schuetzen, also gegebenenfalls Daten entschluesseln koennen bzw. entschluessen lassen koennen."
In den zustaendigen Bundesministerien wuerden zur Zeit verschiedene Modelle diskutiert, die rechtsstaatlichen wie marktwirtschaftlichen Grundsaetzen genuegen muessten; es koenne also weder eine vollstaendige, permanente inhaltliche Kontrolle aller verschluesselten Daten geben, noch "wird der Staat auf sein Informationsrecht verzichten koennen, sobald seine oder die Sicherheit seiner Buergerinnen oder Buerger gefaehrdet erscheinen." Auch ein privates Unternehmen koenne "nicht voellig frei von hoheitlicher Aufsicht Monopolist bezueglich der von ihm kryptographierten Daten sein".
Die angestrebte Loesung werde sich -- unter Beruecksichtigung der Ergebnisse der Enquete-Kommission zur Informationsgesellschaft -- in diesem Rahmen bewegen. Friedrich: "Die Bundesregierung beabsichtigt, noch in diesem Jahr zu entscheiden."
Der URL der Seite ist http://www.thur.de/ulf/krypto/verbot.html.

Ohne Datum
Freiheit ist persönliche Freiheit. Freiheit ist, Gedanken mit Anderen auszutauschen, ohne Gefahr zu Laufen dafür bestraft zu werden. Freiheit ist Zurückgezogenheit. Freiheit ist innere Zufriedenheit. Ich habe kein Telefon, kein Netzzugang, keine Scheck- karte, keine Krankenkasse, kein Einkommen. Der Wald ist mein Leben, die Hügel mein Vergnügen. In der Stadt bin ich anonym, es ist gut so. Ich hoffe, es gibt dort noch andere.

Auszug aus einer Zeitung:
Badische Neuste Nachrichten, 8.7.2007
Terrorbande in Karlsruhe ausgehoben
[epa/bnn] Wegen des Verdachts auf Verstoß gegen die Antiterrorgesetze wurden gestern mehrere Karlsruher verhaftet. Auf Anweisung des europäischen Polizeicomputers wurde ein Verhaftungsbefehl aufgrund von Indizverdacht ausgestellt und von der örtlichen Polizei durchgeführt. Hauptwachtmeister Reinbold: "Wir überraschten die Haupt-Verdächtige an ihrem Arbeitsplatz, in einem Karlsruher Alternativsender. Sie stritt alles ab, aber die Beweise, die uns der europäische Sicherheitscomputer geliefert hat, sind überzeugend. Derzeit befindet sich die Verdächtige in Vorbeugehaft." Da EUSpy vermutet, daß es sich nicht um einen Einzelfall handelt, ist in den nächsten Tagen rund um Karlsruhe mit verstärkten Rasterkontrollen zu rechnen. Unbescholtene Bürger haben nichts zu befürchten. Nach der Verhaftung kam es vor dem ehemaligen Bundesverfassungsgericht zu spontanen Tumulten. Die Randalierer forderten Beweise und die Abschaffung der Antiterrorgesetze. Die Tumulte konnten schnell niedergeschlagen werden. Die Kommissarin für Information, Anna Lee McDonald meinte, auf diesen Fall angesprochen: "Natürlich kann sich auch ein Computer mal irren. Aber die automatisierte Verbrechensbekämpfung hat die Rate der organisierten Kriminalität in der Union erheblich gesenkt. Wir sind damit sehr erfolgreich und werden es auch in Zukunft sein. Sollte es sich in diesem speziell Fall tatsächlich um einen Computerfehler handeln, werden wir das natürlich überprüfen. Aber das ist mehr als unwahrscheinlich. Ich vertraue dem Sicherheitscomputersystem!"

Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Martina ist tot. Ich schreibe in das Buch nur zwei Wörter, schließe es und lege es wieder unter die Wurzeln.

Ich fahre wieder Fahrrad, zurück in die Stadt. Der Wind weht mir ins Gesicht. Das Laub der Bäume nickt mir zu. Am Himmel steht der Satz: "Ich lebe."