© Andreas Romeyke (sh. Rechtliche Hinweise)

Der Epsiloneffekt

( geschrieben Sa 07.09.96 )

Vorwort

Ich hoffe, die folgende Kurzgeschichte wird von dem geneigten Leser nicht allzu oberflächig betrachtet und vorschnell beurteilt. Der Leser mag es mir verzeihen, wenn ich auf allzu empfindliche Gemüter keine Rücksicht zu nehmen gedachte, sondern mich auf die für die Kernidee nunmal notwendigen Beschreibungen eingelassen habe, ohne sie wegen der schnöden political correctness zu beschönigen oder gar auszulassen.

Diese Geschichte will auch nicht den Anspruch erheben, von jedermann verstanden zu werden, es gilt für mich gewissermaßen der Grundsatz, das Schreiben nicht vorrangig um des Publikums Gunst zu werben, sondern um des Schreibens selber zu betreiben, die Abenteuer des schnöden Alltags in erinnerungsträchtigen Versionen, die Gedanken, so verrückt sie sein mögen in verschlüsselter Form für spätere Jahre aufzubewahren, und sei es nur des späteren Vergnügens Willen.

Für einen Austausch von Meinungen und Ideen stehe ich jederzeit zu einer Diskussion bereit, und möchte nur noch der Frage vorbeugen, wie erwähntes Büchlein heißen mag. So denn, es wurde "Des Meeres und der Liebe Wellen" genannt und von wem es geschrieben ward, sei ein Geheimnis nicht, Franz Grillparzer war er genannt.

Nun, sei dies des Vorworts und langer Red' genug.


Stadt. Dämmerlicht über den Straßen. Es ist windstill. Vereinzelt das Geräusch hastender Schritte. Ab und zu eine streunende Katze. Die dunklen Schatten der Bäume säumen einen Weg. Am Ende ein schwaches Licht. Musik und Gelächter durchdringt die nächtliche Ruhe. Ein altes Haus, abgefallener Putz läßt die alten Steine aus Ziegel schimmern, ein Tor führt durch. Im Hof Bänke. Betrunkene und Nachtschwärmer sitzen bei Kerzenschein über ihrem Bier. Die helle Sichel des Mondes beleuchtet die Szene. In der Ecke, abseits im Halbdunkel sitzt ein junger, unscheinbarer Mann. Den Arm stützend unter das Kinn geschoben, den Blick in die Tiefen seiner Seele gerichtet, sinniert er über Gott und die Welt. Unbeachtet und mit tiefster Zufriedenheit stellt er fest, das die letzte Wahrheit gefunden wurde. Wirklichkeit - ein müdes Lächeln, kaum merkbar huscht es über sein Gesicht. Sinn ist Leben um des Lebens Willen, nicht mehr, nicht weniger. Ein Geschöpf, Gefangener seines Universums, gekettet an die eisernen Ringe seiner Gedanken, ohne Kontakt nach außen. Er weiß, daß es nicht geht, das niemand als er ist, und wenn doch, er es als Gespinst seines eigenen Wesens halten würde. Verzweifelt windet sich das Geschöpf in seinen Qualen, verflucht dazu, ewig den Kampf mit sich zu fechten, die selbst auferlegte Bürde bis aller Zeiten Ende zu tragen, gleichzeitig befriedigt von der Macht seiner Gedankenwelt willig die Fesseln tragend. Es verflucht Gott, weil es sich selbst verflucht, es haßt, weil es die Enge haßt, es weint, weil es nicht die Weiten seiner Phantasien messen kann, und es ist froh, weil es nicht weniger ist. Es sieht die Nacht in sich selbst und handelt Macht seiner Gedanken, es sucht Grenzen und testet sie.

Eine Wolke schiebt sich vor den Mond, schwarz ist die Nacht, durchdrungen nur vom Schein der kleinen, flackernden Kerzen auf den Biertischchen einer kleinen Kneipe. Ein junger Mann steht auf, lautlos sein Schritt, doch ebenso sicher und entschlossen. Als er durch das Tor tritt verschluckt ihn die Nacht.

Sie zieht leise den Riegel zurück, schlüpft durch die Tür und spürt die erfrischende Kühle der Nacht. Sie liebt diese Luft. Hier fühlt sie sich frei. Sie haßt die Enge der elterlichen Wohnung. Sie will in die Stadt, einfach sie selbst sein, sie will nichts anderes als einfach nur leben. Mit behendendem Schritt geht sie geradewegs Richtung Stadt. Ihr fallen einige Verse aus einem alten Buch ein, was sie vor langem las:

Wie bin ich glücklich, daß nun heut' der Tag,
Und daß der Tag so schön, so still, so lieblich!
Kein Wölkchen trübt das Firmament,
Und Phöbus blickt, dem hellen Meer entstiegen,
Schon über jene Zinnen segnend her.
Schaust Du mich schon als eine von den Euren?
Ward es dir kund, daß jene muntre Hero,
Die Du wohl spielen sahst an Tempels Stufen,
Das sie , ergreifend ihrer Ahnen Recht,
Die Priester gaben von Urväterzeit
Dem hehren Heiligtum - daß sie's ergreifend
Das schöne Vorrecht, Priesterin nun selbst;
Und heute, heut' an diesem, diesem Tage.
Auf jenen Stufen wird das Volk sie sehn,
Den himmlischender Opfer Gaben spendend,
Von jeder Lippe ringt sich Jubel los,
Und in dem Glanz, der Göttin dargebracht,
Strahlt auf der Priesterin Haupt.

Sie muß lachen, weil sie sich als Priesterin in der Disco vorstellt,stolz das Haupt erhoben, die Kerle demütig ihr Kränze reichend. Verwunderung, mehr nicht. Erst langsam wird sie sich wieder bewußt. Eiskalt, Zentimeter um Zentimeter dringt der blanke Stahl ein. Die Zeit vergeht langsamer. Jeder Muskel läßt sie jetzt fühlen, das sie lebt. Die Flut der Erkenntnis überrollt sie, hilflos ertrinkend, weiß sie, was Leben heißt. Sie kann ihr Herz bewegen hören, schneller, doch die Zeit vergeht noch langsamer. Jede einzelne Nervenfaser ist für sie begreifbar. Sie spürt, wie der kühle Stahl an Knochen gleitet, spürt die beginnende Schwere ihrer Glieder. Jeden Tropfen Blut sieht sie auf den Boden schweben. Die Welt dreht sich und wird größer. Sie bemerkt eine Ameise, die wie eine kleine Insel im Meer roten Blutes schwimmt. Zappelnd kämpft das Insekt um sein Leben. Jede Bewegung ein faszinierender Tanz mit dem Tod. Mit der Erinnerung längst vergangener Erfahrungen vermischt sich das Bild langsam wachsender Pflastersteine. Ohne Gefühl des Schmerzes und mit befreiender Gelöstheit, die Augen zum Himmel gerichtet, klar die Sterne sehend ist sie voller Gefühl körperloser Leichtigkeit. Ins Gedächtnis langsam eindringend, rational, scheinbar belanglos und ohne Zusammenhang sieht sie Zahlen, gleitend ineinander übergehend als Erinnerung vorüberziehender Zeit. Mit leichter Entzückung bemerkt sie das dahinschwebende blaugrauschimmernde, mit roten Perlen besetzte Stück Stahl in weißen, faltenlosen Fingern, welches sich ihrem Hals zärtlich anzuschmiegen sucht. Mit dem Gefühl höchsten Glücks erfährt sie den Schnitt und das leichte, unscheinbare Knacken am Halse. Das warme Blut schluckend, wird sie sich dem Ende bewußt und ihr Körper zittert und mit dem Gefühl höchster Verzweifelung schickt ihr Gehirn die letzen Gedanken als Befehl zur Verteidigung. Ein kaum hörbares Glucksen und der Schwall des mit letztem Herzschlag gepumpten Blutes ergießt sich über ihren Körper.

Ein junger Mann zieht durch die Stadt. Befriedigung zeigt sein Gesicht, ausgeglichen und gelassen. Einzig und allein das Zittern seiner Hände zeigt die Anstrengungen der vergangenen Nacht.

Das Geschöpf weiß, das es keine Grenzen hat. Es errät seine eigenen Gedanken, es weiß was passiert. Alles muß einmal getan werden. Mit der Gewißheit, in seinem Universum allein und voller Macht zu sein, hat der Schmerz der Verzweifelung aufgehört.

Doch es sucht Grenzen und testet sie.